Wer eine Mission erfüllt, scheint kein Problem damit zu haben, sein Ich zu spüren. Wir sprechen bei solchen Menschen auch von Berufung. Kann ich von so etwas wie einer Berufung in mir sprechen? Ich habe doch keine außergewöhnlichen Berufungserlebnisse, so wie biblische Propheten. Ich bin auch kein Genie wie Mozart oder Beethoven. Ich habe doch nur ganz alltägliche Pflichten, die ich im Laufe meines Lebens ausfülle. Als Mutter ermögliche ich Kindern durch meine Erziehung mit dem Leben zurecht zu kommen, als Coach führe ich Menschen zu Ergebnissen bei beruflichen Herausforderungen, als Chormitglied singe ich in Konzerten, als Mitglied meiner Freundesgruppen besetze ich einen bestimmten Platz, als Sportlerin in einem Verein halte ich mich mit anderen körperlich fit. In allen diesen unterschiedlichen Verpflichtungen kann ich Momente meiner Berufung erkennen. Momente können sein, dass mir die Gesundheit der anderen zur Aufgabe wird, weshalb ich Medizin studiere. Ein anderer Lebensauftrag könnte sein, dass ich mich für Gerechtigkeit einsetzen will und deshalb Jura studiere. Oder ich will Kindern einen Raum für die Entfaltung ihrer Freiheit eröffnen, weshalb ich dann Erzieherin werde oder Pädagogik studiere. Wieder ein anderer Moment kann darin bestehen, größere Zusammenhänge zu erkennen. Den Blick dafür gewinne ich in einem Philosophiestudium.
Der Lebensauftrag schält sich heraus
Anfänglich sind es oft nur Momente, die mich auf meinen zentralen Lebensauftrag hinweisen. Dieser kann mir in jungen Jahren deutlicher vor Augen stehen als später, denn im Laufe meines Lebens ändern sich die Umstände, es ändern sich Bedingungen unter denen ich lebe und damit auch die Anforderungen an meine Person. Ich nehme immer wieder viele verschiedene Rollen ein, die mir nicht unbedingt mehr Klarheit über meine Identität vermitteln, vielleicht mich sogar ablenken von dem, was ich mit meinem Leben will. Dann stellt sich mir die Frage, wer ich bin, was mich ausmacht.
Ich finde das in Situationen, die mich in meinem Alltag unverhofft aufmerksam werden lassen, indem sie meinen Lebensnerv treffen, mich zu Entscheidungen und zum Handeln herausfordern, weil ich spüre, dass hier mein Lebensauftrag gefragt ist. Wenn es mir dann gelingt, die eine Aufgabe wieder zu entdecken, an die ich mich mit meiner ganzen Person, mit all meiner Kraft und Energie binden kann, spüre ich neu meine Berufung. Diese entwickelt sich mit meiner besonderen Achtsamkeit auf das, was ich jeden Tag zu erledigen habe. Bin ich ihr wieder auf der Spur, kann ich neue Aufgaben mit Kreativität zu lösen.
An der Verpflichtungskraft erkenne ich meinen Lebensauftrag
Die eigene Berufung zu entdecken, eröffnet mir den Zugang zu meiner Identität. Die Identität muss immer neu gefunden werden, nämlich wie ich mich selbst verstehe und wer ich sein will. Weil sich die Umstände ändern, ich auch verschiedene Altersphasen durchlaufe, muss ich immer wieder neu bestimmen, was ich mit meinem Leben verwirklichen und wer ich als Person sein will. Auf diese Weise fließt etwas von meiner Berufung in die unterschiedlichen Bereiche meines Lebens ein, so dass meine Person trotz aller Veränderungen für die anderen eine immer deutlichere Gestalt gewinnt. Dieser Rote Faden „Lebensauftrag“ hilft mir, mich in den vielen unterschiedlichen Aufgaben und Rollen meines Lebens zu verhalten, meinen Daumenabdruck zu hinterlassen, mein eigenes Ich deutlicher zu spüren, damit ich mich sicherer in der Vielfalt der Herausforderungen unserer Gesellschaft bewegen kann.
Kompass meines Lebens
Verweigere ich mich meiner Berufung, verliere ich die Möglichkeit, in der Vielfalt der Rollen und Aufgaben zu meiner eigenen Identität zu gelangen. Dieser Verlust ist nicht direkt spürbar, denn das Leben ist so bunt, dass ich überall mitschwimmen kann, ohne wissen zu müssen, was ich im Innersten will. Langfristig allerdings fährt dann mein Schiff ohne Kompass und kann irgendwann dort auf Grund laufen, wo ich nie ankommen wollte.
Wenn ich mich also frage, worin die Verpflichtungskraft meiner individuellen Berufung besteht, komme ich meiner Identität näher. Denn in jeder Aufgabe, die sich mir stellt, kann ich danach suchen, wie sie der Erfüllung meiner Berufung gerecht wird. So wie ich mein Navi einstelle, um nicht ohne Ziel und Richtung unterwegs zu sein.
Berufung braucht ethische Leitplanken
Nun könnte man meinen, dass ich meiner Berufung ohne „Rücksicht auf Verluste“ folgen soll und deshalb die aus der Ethik kommenden Verpflichtungen außer Acht lassen kann, wenn es um die Verwirklichung meiner Berufung geht. Da gerate ich schnell auf einen Holzweg, denn meine individuelle Berufung dispensiert mich nicht von der Verpflichtung, die moralischen Grundsätze einzuhalten, mich ethisch zu verhalten. Wenn ich mit Lügen und Gewalt und dem Anspruch „das ist meine Berufung!“ auftrete und handle, zerstöre ich meinen Lebensauftrag. Wer sich z. B. mit Gewalt für eine religiöse Auffassung durchsetzen will, zerstört die Religion. Wer eine sportliche Herausforderung durch Doping meistern will, zerstört seinen Körper. Wer einen anderen zwingen will, ihn zu lieben, zerstört die Liebe.
Meine Identität entdecke ich durch meine Berufung. Sie gibt mir für mein Leben Orientierung. Sie ermöglicht mir auch eine gekonnte Fahrt durch die Stromschnellen meines Lebens.
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