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Der Mensch ist mehr als eine Seele

Die Gegensätzlichkeit von Leben und Tod scheint auf den ersten Blick eindeutig und klar zu sein. Bei genauerer Betrachtung erweist sich diese scheinbare Eindeutigkeit als eine hochkomplexe Angelegenheit. Die Enthaltsamkeit von Bedeutungszuschreibungen bei der Betrachtung von Phänomenen erreicht auf diesem Feld die wohl höchste Hürde. Der Begriff der Seele erweist sich dabei als ein nur sehr beschränkt brauchbarer Begriff.

Vom deutschen Arzt und Pathologen Rudolf Virchow stammt der Satz: „Ich habe so viele Leichen seziert und nie eine Seele gefunden.“ Dieser Feststellung kann man nicht widersprechen. Ebenso lässt sich auch sagen, dass ein Ich im Körper eines Menschen nicht zu finden ist. Dennoch lässt sich fragen, was den lebendigen von einem toten Körper unterscheidet. Rein phänomenologisch liegt der Unterschied in der Bewegung. Der tote Körper, die Leiche, ist starr. Zwar mag eine thanatologisch kunstfertig hergerichtete Leiche wie das blühende Leben aussehen, doch lässt sich weder im Gesicht ein Mienenspiel ausmachen, noch lassen sich Bewegungen des Körpers feststellen, die vom Atmen oder Herzschlag herrühren. Die Frage, die sich von diesen Bewegungen her ergibt, ist die des Ortes. Wo ist die Schaltzentrale, der Impulsgeber für diese Bewegungen? Naturwissenschaftlich können wir im Stammhirn Areale finden, die für diese basalen Funktionen des Menschen verantwortlich sind. Allerdings ist dies nur ein Wissen. Wir können das Gehirn nicht direkt beobachten. Dass Menschen daher von Seele sprechen, ist nicht verwunderlich.

Probleme des Übergangs

Die Bewegungslosigkeit des toten Körpers als Unterschied zwischen Leben und Tod gerät durch die moderne Apparatemedizin zu einer Komplexität auf einem höheren Niveau. Ist der Körper an die Herz-Lungen-Maschine angeschlossen, so ist die Bewegungslosigkeit kein Kriterium der Unterscheidung mehr. Es gibt Atembewegungen und der Puls lässt sich fühlen, der Körper ist warm. Für Angehörige ist ein solcher Zustand unerträglich, denn es fällt schwer zu glauben, dass dieser Körper tot ist. Auf der anderen Seite wird ein Aspekt des Todes deutlich. Verwesen kann der Körper erst, wenn sich die Ärzte entschließen, die Geräte auszuschalten. Das bedeutet, wenn keine Energie mehr fließt, kann der Tote seinen Weg gehen. Der Philosoph Wilhelm Schmid versucht, mit dem Bild der Energie das Weiterleben zu erklären. Für ihn gilt dabei die Feststellung: Manche Menschen können sich ein Leben nach dem Tod nicht vorstellen. Das ist kein Beweis dafür, dass dieses Leben nicht existiert (Psychologie heute 12/2017).

Energie und Leib

Das Energieerhaltungsgesetz nach Hermann von Helmholtz besagt, dass Energie umgewandelt werden kann, aber nicht verloren geht. Die Energie, die in einem Menschen als Lebender war, bleibt bestehen. Moleküle und Atome werden in neuen Körpern zum Baustoff. Es verbindet sie jedoch nicht mehr das, was vorher im Verstorbenen eine Einheit war. Der Gedanke einer solchen Kohärenz muss jedoch nur dann bestehen, wenn der Mensch auf seinen Körper reduziert wird. Wird angenommen, dass der Mensch Körper ist und einen Körper hat, dann wird eine Art Zwischenraum angenommen. Eine irgendwie definierte Instanz steht in Beziehung zu dem Molekülhaufen. Dieses Phänomen kann Leib genannt werden. Es fließen in diesem Raum Energien, die von einem anderen Leib wahrgenommen werden können und von der man annimmt, dass dieser Energieraum die Persönlichkeit des Menschen ausmacht. Der Mensch ist nicht durch seine Haut in seiner Körpergrenze definiert. Um Hitze zu spüren, muss man die Herdplatte nicht anfassen, man spürt sie vorher. Die Aura eines anderen Menschen fühlt man, es ist nicht notwendig, den Körper des Anderen zu berühren. Hieraus ergibt sich die Frage, ob dieser Leib in derselben Weise tot ist wie der Körper. Anschaulich wird dies bei der Betrachtung von Hundehalter und Hund. In eigenartiger Weise scheinen sich manche Tiere dem Menschen angeglichen zu haben und umgekehrt. Auch Paare, die lange zusammen sind, gleichen sich in ihrer Physiognomie wie auch ihrem Habitus an. Wenn der eine stirbt, bleibt die Energie des anderen im Leib des anderen erhalten. Als philosophisches Experiment könnte man überlegen, wie sich Tod erklären ließe, wenn man sich dabei nicht auf den Körper bezieht. Die Vorstellung einer Seele muss man dabei nicht bemühen.

Der Tod als Gesamtgeschehen

Wird Tod nicht allein auf den Körper bezogen, so muss man statische Vorstellungen verlassen. Eine Dynamik, die sich bei einem Menschen konzentriert hat, verteilt sich auf andere, ein neues Gebilde entsteht. Der Geist dieser Dynamik lebt weiter, obwohl die Komplexität so groß sein kann, dass kaum noch erkennbar ist, was diese Dynamik einmal konkret ausmachte. Stellt man sich dann vor, was passiert, wenn das Weltall sich wieder zusammenzieht, die Zeit rückwärts läuft und ganz stehenbleibt, dann verdichtet sich diese Dynamik oder Energie wieder. Eine Vorstellung davon können wir uns nur sehr kryptisch machen, denn wir leben in der Zeit und sind im Strom von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gefangen. Was wir Seele nennen, kann daher nur eine Ahnung sein. Die Seele als eine objektive Tatsache zu definieren, ist fast schon eine Häresie. Dies würde nämlich bedeuten, sich als Gott zu fühlen, der dem Menschen ein Gegenüber ist. Der Mensch kann sich jedoch immer nur als Teil der Gesamtdynamik verstehen, ihm ist es nicht möglich, das Einzelne im Sinne einer Seele zu definieren. Seele kann als Metapher, als Bild benutzt werden, mit dem eine hohe Komplexität handhabbar gemacht wird.


Kategorie: Analysiert

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