„Das Handy wird zum Körperteil“
Vor zweieinhalb Jahren beschäftigte sich eine FAZ-Feuilletonistin unter dem Titel „Das Handy wird zum Körperteil“ mit der Frage, welche Folgen es wohl mit sich brächte, wenn Smartphone-Apps immer mehr die Vitalfunktionen und Gesundheitswerte prüften und managten. Mehr und mehr würden Menschen den eigenen Körper, die Gesundheitswerte, die Schlafqualität usw. mithilfe von Daten im Smartphone vermessen und damit dem fortschreitenden Selbstoptimierungszwang Vorschub leisten.
Das Smartphone werde mittlerweile als Körperteil wahrgenommen, so die Diagnose, wodurch dem Gerät folglich wie selbstverständlich die Autorität für die Vermessung und Verbesserung des eigenen Körpers und Wohlbefindens zugebilligt werde. Die Selbstvermesser verlernten, so das Resumée, auf ihr Bauchgefühl zu hören, die Maschine habe mehr zu sagen als der eigene, fremdgewordene Körper. Für sie selbst sei es – so die FAZ-Feuilletonistin im Jahr 2012 – „ein ziemlich merkwürdiges Gefühl, neben seinem Smartphone einzuschlafen“ und aufzuwachen, um mithilfe einer App die Schlafzyklen überprüfen und verbessern zu können.
Smartphone-Abstinenz unvorstellbar
In der Generation derjenigen, die schon einen Selfie ihrer eigenen Geburt gemacht und auf Instagram gepostet hätten, Kinder und Jugendliche ab 12 Jahren aufwärts, ist das Gegenteil unvorstellbar. Für die Smartphone-natives ist es eine unmögliche, schon fast körperliche Schmerzen verursachende Vorstellung, ohne ihr Smartphone einzuschlafen oder aufzuwachen. Sie haben aber keine Angst um den Erhalt oder die Verbesserung ihrer körperlichen Gesundheit, sondern um die Zugehörigkeit und die Anerkennung in ihren jeweiligen Bezugsgruppen. Eine Smartphone-Abstinenz, und sei sie nur kurz, kommt einem kommunikativen und damit sozialen Suizid gleich. Eltern und Pädagogen rennen daher gegen Wände, wenn sie versuchen, ihre Schützlinge von den Geräten wegzubekommen.
Das Smartphone wird nicht einfach als verlängerter Arm oder als Körperteil wahrgenommen wird, sondern als Teil der Persönlichkeit, des Ich. Es ist zu einem Teil des Geistes geworden. Das unterscheidet das Smartphone eindeutig von Geräten, vor oder an denen Jugendliche ansonsten einen Großteil ihrer Zeit verbringen. Die Smartphone-Nutzung beeinflusst heute vor allem die Persönlichkeit und das Sozialverhalten.
Mediennutzung: Zerstreuung und Gruppenzugehörigkeit
Jugendliche und junge Erwachsene nutzen Smartphones anders als sie Fernseher, Spielkonsolen oder Computerspiele nutzen. Diese Bildschirmmedien wurden von den Jugendlichen seit jeher hauptsächlich zur Zerstreuung genutzt. Vor dem Smartphone-Zeitalter war es für die soziale Anerkennung in der Gruppe zwar auch wichtig, dass man die Computerspiele gemeinsam oder gegeneinander spielen konnte und sich zumindest am nächsten Tag in der Schule oder der Clique über die Spiele oder die gesehenen TV-Formate austauschen konnte. Aber erst Anfang der 2000er-Jahre wandelte sich die Bedeutung des medialen Verhaltens durch die neuen technischen Möglichkeiten.
Es kamen Internet-Flatrates und Hochgeschwindigkeitszugänge, das Internet wurde zu einer Tausch- und Kommunikationsplattform: Musik, Filme, Serien, Links zu den guten Videostream-Seiten wurden untereinander getauscht; bei den pubertierenden Jungs gehörten diejenigen dazu, die die neuesten Kinofilme schon auf dem Computer hatten, sie auf CD brannten oder auf LAN-Parties an andere weitergaben; und, wer die besten Pornofilme heruntergeladen hatte. Die Mädchen interessierten sich mehr für TV-Serien wie „Sex and the City“ – mitreden konnte, wer am Abend die neue Folge gesehen hatte.
Der Wandel zur Dauerkommunikation
Bei den Mädchen begann aber ein erster Trend, der für das Smartphone-Nutzungsmuster der jungen Generation heute maßgeblich ist: die fast ununterbrochene Kommunikation. Kaum nach Hause gekommen, riefen die heranwachsenden Frauen sofort ihre beste(n) Freund(in) an und telefonierten teilweise bis spät in die Nacht fast ohne Unterbrechung miteinander, obwohl sie sich tagsüber persönlich in der Schule oder anderswo trafen. Dazu kamen im Internet ohne Minuten- oder Datenvolumengebühren die einschlägigen Instant-Messenger wie ICQ, MSN Messenger und viele Browserchats, bei denen man ohne finanzielle Bedenken ständig online sein und kommunizieren konnte – und waren die Themen auch noch so belanglos, Hauptsache man war dabei.
Mit dem Smartphone haben die Jugendlichen diese Art der andauernden Kommunikation perfektioniert. Alle genannten Formate sind mit wenigen Fingerstrichen jederzeit überall abrufbar. Was wie ein Satz aus einer Apple-Werbung klingt, beschreibt technische Möglichkeiten, die einen zwar schwer einzuschätzenden, aber schon beobachtbaren kulturellen, sozialen, geistigen und intellektuellen Wandel mit sich bringen.
„Mir geht’s auch gut“ – Nicht-digitale Gefühle?
In der pädagogischen Arbeit mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen beobachte ich, dass diese kaum in der Lage sind, in einer Gruppe etwas über sich selbst zu auszusagen. Die Frage: „Wie geht es dir jetzt gerade? Wie ist deine Stimmung?“ kann kaum noch mit mehr als „müde“ oder „gut“ beantwortet werden. Aufgaben für Kleingruppen poste ich heute meistens in die WhatsApp-Gruppe der Teilnehmenden. Das funktioniert besser als eine mündliche Ansage oder ein Flipchart. Persönlichkeitsbildung findet in dieser Generation zu einem wesentlichen Teil digital statt, auf und vor dem Smartphone-Bildschirm, wo jederzeit jede Information, jede Form von Zerstreuung und jede Person verfügbar sind. Es sind aber nicht nur die Jugendlichen, die sich so verändert haben. Auch Erwachsene, auch wenn sie andere Apps nutzen und den Askese-Knopf vielleicht öfter betätigen, können sich wiedererkennen.
Diese Entwicklung verunmöglicht den jungen Menschen zunehmend die zwischenmenschliche Kommunikation im nicht-digitalen Rahmen, den man bis vor kurzem wohl noch „reale Welt“ oder so ähnlich genannt hat. Aber diese Bezeichnung ist falsch und irreführend. Die digitale Dauerkommunikation ist real für diejenigen, die sie betreiben. Sie gehört ganz zentral zu ihrem Leben und Erleben. Es ist auch nicht richtig, die jungen Leute als „User“ oder „Nutzer“ zu bezeichnen, sie sind schlicht Kommunizierende.
Ein Teil meines Ich – ins Digitale ausgelagert
Es ist also grandios untertrieben zu meinen, mit meinem Smartphone hielte ich einfach nur einen ganz kleinen Computer in der Hand – oder trüge ihn als Uhr am Handgelenk. Es handelt sich vielmehr um einen ins Digitale ausgelagerten – aber realen, nicht virtuellen (!) – Teil meiner Person, meines Ichs. Selbst während ich schlafe, erreichen mich Nachrichten auf dem Nachttisch, wird mein Gesicht auf Schnappschüssen mit meinem Facebook-Profil verlinkt, formt sich mein digitales Abbild weiter, indem Andere nicht mehr Löschbares über mich schreiben. Am nächsten Morgen kann ich sehen, wie ich mich verändert habe. Die digitalen Veränderungen wirken auf mein nicht-digitales Selbst zurück, ich nehme sie auf, lasse sie – je nachdem wie reflektiert ich darüber bin – zu einem Teil meines analogen Selbst werden.
Smartphone ist eher „res cogitans“ als „res extensa“
Das Smartphone ist also viel mehr als nur Teil der kartesischen „res extensa“. Die Existenz des Körpers konnte Descartes noch problemlos seinem methodischen Zweifel unterwerfen. Mein Smartphone-Ich ist eher im Bereich der „res cogitans“, des denkenden Ichs. Dessen Existenz kann ich nicht mehr anzweifeln. Wie Descartes können wir heute fragen: Was bliebe als gesicherte Erkenntnis, wenn ich alles anzweifle: ist mein Körper so in Ordnung wie er ist, sehe ich gut aus, mögen meine Freunde mich wirklich, in welcher Art von Beziehungen stehe ich? Das sind die großen Fragen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Mein analoges Ich kann traurig, verletzt, unzufrieden, tot sein. Die Antwort: sicher ist, dass es mich digital gibt.
Horcrux oder Sakrament?
Dieses digitalisierte Ich ist immer verfügbar und dank der ‚Unvergesslichkeit‘ des Internets unzerstörbar. Es ist, als hätte ich einen Teil meines Selbst abgespalten, um es zu schützen, in ein Artefakt übertragen und würde es dort verwahren. So wie der böse Harry Potter-Gegner Lord Voldemort, der sich auf diese Weise unsterblich machen wollte. Das Smartphone wirkt wie einer dieser 7 „Horkruxe“. Auch nach dem physischen Tod von Personen bleiben Facebook-Seiten und somit ein digitaler Teil der Person oft erhalten, Freunde posten auf deren Pinnwände und verlinken ihre Profile auf Facebook. Das digitale Ich bleibt am Leben.
Womöglich stifte ich mit meinem so geschaffenen digitalen Ich gar eine Art von Sakrament. Ich setze mich mittels meiner digitalen Smartphone-Identität für die anderen gegenwärtig in den Zeichen von Facebook, WhatsApp und Instagram. Man kann mich auf dem Gerät in der Hand halten und daher berühren, anschauen – und: bewundern, gar verehren. Ich hinterlasse Spuren, die auf mein analoges Ich verweisen. Allerdings bestimme ich, welche Spuren ich hinterlasse, damit ich bewundert und verehrt werde.
Sie wissen, dass ich mich verstelle und akzeptieren mich doch
Um in meiner Bezugsgruppe dazuzugehören, war es auch vor der Social Media-Revolution legitim, mich bis zu einem gewissen Grad zu verstellen – solange die Entscheider in der Gruppe es nicht bemerken oder eben dulden, weil sie sich ja selbst auch verstellen. In WhatsApp, Instagram und Facebook gehört es allerdings zum guten Ton, dass ich mich anders, nämlich vorteilhafter oder zumindest derart präsentiere, dass ich auffalle und Teil der Kommunikation bleibe.
Es ist kein automatischer Ausschlussgrund, wenn ich regelmäßig offensichtlich gestellte Fotos poste, Selfies, aufgehübscht, mit Fotofilter oder in zweideutigen Posen. Die anderen wissen zwar meistens, dass das nicht „echt“ ist, was ich von mir präsentiere, aber weil es alle machen, wird es akzeptiert. Interessant ist nicht, wer tatsächlich etwas von sich preisgibt, sondern, wer die beste Show bietet. Für die Vereinfachung dieser Kommunikationsweise gibt es mehr als genügend Apps und Tools.
Analoges Erleben und Reflektieren wird schwierig
Diese Art der digitalen Dauerkommunikation über das Körperteil Smartphone erschwert mehr und mehr das Erleben und Erfahren einerseits und vor allem die Reflexion und Kommunikation darüber andererseits. Denn ich kann nicht wirklich in Worte fassen, wie ich mich gerade oder angesichts eines Erlebten fühle. Ein realer und oftmals der realste Teil meines Ichs ist im Smartphone, das in der pädagogischen Runde gerade verboten ist. Dort, wo ich hauptsächlich kommuniziere, gibt es weder diese Erfahrungen noch die Ausdrucksformen, die im nicht-Digitalen eingefordert werden. Ich kann deshalb auch nicht richtig beschreiben, was ich erlebt habe; nachvollziehen, was andere erlebt haben und dass es ihnen damit auch irgendwie geht.
Kein Unterschied zwischen mir und den anderen?
Die Smartphone-Kommunikation geht teilweise soweit, den gedanklichen Unterschied zwischen mir und den anderen aufzuheben. Ich glaube zu wissen, wie sich etwas für den anderen anfühlt. Ich kann daher kaum nachvollziehen, wenn der andere nicht einfach meine Aussage „liked“, es ihm mehr als „auch gut“ oder „auch müde“ geht, er nicht einfach den „Daumen hoch“-Smiley schickt. Im Analogen soll ich aber aushalten, dass ich nicht (wie) der andere bin, sondern soll einen eigenen Standpunkt vertreten; ich darf zu meinem eigenen Gefühl, meiner Meinung stehen.
Zwar waren einige Muster und Schwierigkeiten in Kommunikation und Reflexion zugegebenermaßen auch vor dem Smartphone-Zeitalter ein Charakteristikum junger, pubertierender und heranwachsender Menschen. Die Herausforderungen in der geistigen und sozialen Entwicklung der Jugendlichen nehmen durch die beschriebenen Nutzungsmuster jedoch einen ganz anderen Geschmack, eine völlig andere Qualität an. Eltern und Pädagogen, Kulturschaffende, Politiker usw. können dies kaum nachvollziehen. Das macht es ihnen noch viel schwieriger, mit der jungen Generation zu kommunizieren.
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