Die fortschreitende Digitalisierung hat den Charakter eines im Aufbau befindlichen riesengroßen Mosaiks: es kommen immer mehr Steinchen dazu. Erst waren es die Freundes-Vorschläge „Kennst Du vielleicht?“, dann die Like-Vorschläge „Gefällt Dir vielleicht auch diese Seite?“, dann die ständige Befindlichkeitsabfrage „Was denkst Du gerade?“, jetzt Google-Mail mit seiner automatischen Email-Antwort.
Zu nah dran am Mosaik
Bei dem Mosaik des Digitalen steht der Nutzer, der Betrachter ganz nah dran und sieht immer nur einen winzigen Ausschnitt, ein Teilchen des gesamten Bildes. Die Digital-Riesen Google und Facebook entwickeln stetig neue Mosaiksteine und der Nutzer puzzelt sich seine digitale Identität, sein Alter-Ego im Netz. Die Nutzer schauen immer nur auf die einzelnen Bildausschnitte und Mosaiksteinchen. Eigentlich könnte man meinen, sie müssten verstehen, was vor sich geht, wenn man sie doch mit der Nase darauf stößt. Aber das große Ganze kann man aus der Nähe nicht erkennen.
Das Digitale ist totalitär
Das sich im Digitalen bildende Persönlichkeitsprofil ist nicht virtuell, sondern real. Es gehört zu mir. Ohne das Digitale gibt es mich im Grunde gar nicht mehr. Wenn mein analoges Ich stirbt, überleben meine verschiedenen digitalen Identitäten, ob ich will oder nicht. Alles ist irgendwo auf Servern gespeichert, sogar wenn ich es nicht selbst willentlich oder aktiv dort abgelegt habe. Das Digitale ist totalitär. Es will die ganze Welt, ja den ganzen Menschen digitalisieren. Diese totalitäre Tendenz macht aber nicht frei, sondern blind. Der Totalitarismus des Digitalen verkleidet sich als Freiheit, und das sehr geschickt.
Mehr Zeug, mehr Platz?
Facebook will einfach alles wissen. Natürlich will niemand dem Internet-Giganten Facebook diese ganzen Informationen geben. Und das tun wir ja auch nicht. Daher macht Facebook den Nutzer glauben, es seien die Freunde, die Bekannten, ja gar die Abonnenten der eigenen Facebook-Seite, die wissen wollen, was „dir gefällt“, wie es „dir geht“, wen „du kennst“. Ziemlich guter Trick.
Google-Mail-Nutzer freuen sich vielleicht, dass Sie „niemals eine E-Mail löschen müssen“, weil der Speicher des Google-Mail-Kontos stetig wächst. Dabei ist es ja paradox. Je mehr ich sammle, desto weniger Platz müsste ich eigentlich zur Verfügung haben. Google dreht diese Logik um, verkauft den Taschenspieler-Trick als technologischen und freiheitlichen Fortschritt, als endlich wahrgewordene Utopie, brandmarkt Zweifler als technophob.
Mein Müll gehört zu mir
Google ist wie ein organisierter Messi, der bei Aufräumaktionen hartnäckig daran festhält, dass dieses und jenes doch gute Qualität habe, man es irgendwann wieder gebrauchen könnte. Die Digitalgiganten (Digiganten) verhalten sich wie obsessive Sammler, die sich selbst mittels ihrer Kollektionen definieren. Alles wird gesammelt. Alles wird behalten. Keine E-Mail, keine Suchanfrage, nicht einmal der Spam-Ordner sollen gelöscht werden. Es gehört alles zu mir, auch das, was ich gar nicht haben möchte. Selbst mein Müll gehört zu mir.
Wer im Neuen Jahr den Schreibtisch oder die Wohnung ausmistet, weiß, wie herrlich befreiend das sein kann. Alte Papiere zerreißen und wegwerfen, nicht mehr getragene Kleidung aussortieren und weggeben. Man wirft unnötigen Ballast ab, schafft Platz für Neues, man atmet so richtig auf. Im Digitalen geht das nicht. Alles bleibt.
Kein digitaler Tod, keine Befreiung
Ich werde im Internet meine Sünden nicht los. Ich lege zwar ohne Unterbrechung mein gesamtes Leben offen, aber ich werde einfach nicht erlöst. Meine Fehltritte, das, was so gar nicht zu meinem Selbstbild passt, bleiben. Wo nichts gelöscht wird, nichts vergessen werden darf, da gibt es auch keine Erlösung. Es gibt keinen digitalen Tod und damit eben auch keine Auferstehung, keine Befreiung. Das digitale Weizenkorn bleibt allein.
„Ich liebe Dich!“ „Ich liebe Dich?“
Weitere Artikel zu diesem Themenkomplex:
Kommentare (0)
Keine Kommentare gefunden!