Solo-Selbstständige: immer verfügbar
Viele junge Menschen, Mitte 20, Anfang 30 arbeiten nach dem Studium in einer Solo-Selbstständigkeit. Die Digitalisierung ermöglicht es ihnen, zuhause, im Café oder in der Bahn zu arbeiten. Im digitalen Zeitalter ist potenziell jeder in der Lage, Content zu schaffen und diesen selbst zu vermarkten. Es genügen Laptop, Tablet oder Smartphone. Solo-Selbstständigkeit. Eine Person ist ihr eigenes Unternehmen. Dafür sind zwei Dinge zentral: Vernetzung und Erreichbarkeit. Sie können zu jeder Tages- und Nachtzeit arbeiten und müssen es vermeintlich auch. Was einst den Geschmack von Freiheit hatte, etwa, sich seine Arbeitszeit flexibel selbst einteilen zu können, haben die Digitalmonopolisten zu dem Zwang pervertiert, immer erreichbar und verfügbar zu sein.
Facebook verwischt Grenzen, schafft Unsicherheit
Ich kann alles googeln, davon auch Vieles, was im Grunde für meinen beruflichen Erfolg unnötig ist, mein privates Wohlergehen. Dinge, die ich vielleicht lieber nicht gewusst hätte, die mich dann aber tagelang beschäftigen, weil so viele Menschen in meiner Timeline darüber reden. Das kostet Energie.
Gut, werden Skeptiker sagen, man kann sich ja ausloggen, die Geräte ausschalten. Man kann ja die Freizeit gestalten wie und wann man möchte. Das geht aber nur gegen diese Energiefresser:
Zeitmanagement: Struktur ist wichtig
Alle Zeitmanagement-Konzepte, die etwas auf sich halten, lehren: Der Tag braucht eine gute Struktur. Bestimmte Dinge sollten zu einer bestimmten Tageszeit getan werden, damit möglichst wenig Energie in die Entscheidung geht, wann genau man was tut. Der Digitalismus macht diese Strukturierung des Tages extrem schwierig. Direkt nach dem Aufwachen, häufig noch im Bett, lesen Menschen Emails, gehen ihre Facebook-Timeline und die WhatsApp-Nachrichten durch, besuchen Nachrichtenseiten. Google und Facebook setzen damit die Agenda für den Tag, die sich dann wiederum im Laufe von Stunden oder gar Minuten verändern kann.
Was ist noch privat?
Gibt es überhaupt noch ein wirklich „privates“ Privatleben? Alle meine Freizeitaktivitäten und Rekreationsmöglichkeiten sind potenzielle Like-Generatoren. Wenn mein seriöser Content geklickt werden soll, muss ich als Person nahbar, witzig, glaubwürdig, irgendwie authentisch sein – was auch immer authentisch bedeutet. Ich ertappe mich zum Beispiel auf einmal dabei, Freundschaftsanfragen von Menschen anzunehmen, die ich noch nie im nicht-digitalen Leben getroffen habe. Ich lege Freundeslisten auf Facebook an, die „echte Freunde“ von „Bekanntschaften“ und anderen unterscheiden. Nicht jeder soll meine eher privaten Posts sehen können. Andererseits: Vielleicht geht mir damit jemand verloren, der Interesse an meinen professionelleren Posts gehabt hätte. Daraus könnte folgen:
Privat posten für beruflichen Erfolg?
Facebook mit seinen Algorithmen gibt vor, ob und wie gut Vernetzung und Content-Marketing klappen. Niemand weiß, wie Facebook genau funktioniert. Ist es gut, wenn ich ab und zu mal ein lustiges Bild oder ein privateres Foto poste? Bekommen dann meine ernsthafteren, sozusagen „beruflichen“ Posts auch mehr Klicks und Likes? Google und Facebook schaffen Unsicherheit mit ihren intransparenten Methoden. Wann genau poste ich was, damit es Menschen erreicht? Dann muss ich auch noch die Kommentare moderieren und darauf reagieren. Ich bin Autor, Verlag, Fotograf, Moderator zugleich. Und dann soll ich auch noch Privates zeigen.
Privat und beruflich lässt sich nicht mehr trennen
Diese Vermischung von Tag und Nacht, Beruflichem und Privatem, Freundschaften und Bekanntschaften, von Nacheinander zu Gleichzeitigkeit von schlicht allem, das ist das Resultat des Digitalismus. Es nimmt uns Räume und Zeiten der Entspannung, des Abschaltens. Man kann dagegen ankommen, aber das kostet zu viel Kraft, die dann anderswo fehlt. Wenn man einen radikalen Bruch wagt, bestimmte Accounts stilllegt, merkt man schnell, dass viele Dinge, gerade in der Kommunikation, nicht-digital kaum noch möglich sind. Klar, man kann zurück zu einer analogen Bank, nur noch Emails, keine Facebook-Nachrichten mehr. Aber geht das?
Es ist wohl ziemlich romantisch gedacht, die Entwicklungen rückgängig machen zu wollen. Wer aussteigt, isoliert sich. Besonders schwierig ist es für diejenigen, die das Internet beruflich brauchen, die Solo-Selbstständigen, die vom Internet leben. Sie leiden darunter, können aber auch nicht einfach so aussteigen, ihre Kontakte würden ihnen verloren gehen, wie sollen sie ihren Content vermarkten ohne Google und Facebook? Alles soll gleichzeitig in einem einzigen Medium stattfinden. Facebook und Google ziehen alles an sich. Zeiten ohne digitalen Bildschirm gibt es ja gar nicht mehr.
Die Digitalmonopolisten fressen unsere Energie.
Es ist wie im Film „Matrix“: Die Maschinen haben die Menschen an sich angeschlossen und ernähren sich von deren Energie. Die Menschen leben in der Traumwelt, in der es ihnen gut geht. Facebook und Google machen so Vieles leichter, Kommunikation, Kontakt zu Freunden, Verfügbarkeit von Waren und Dienstleistungen. Aber der Preis ist hoch. Die Maschinen brennen uns aus. Unsere Konzentration leidet, unser Fokus wird vernebelt, unser Privatleben spielt sich zu einem großen Teil in dieser Maschinenwelt ab.
Matthias Alexander Schmidt
Die Welt des durchgeführten Digitalismus wird in einem Roman, der zu 90% bereits Reportage ist, dargestellt: Circle von Dave Eggers
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