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Wildes Meer im November

Die Herbststürme treiben gewaltige Wellen auf den Strand zu. Ihre Kraft formt das Gestein, auf das sie treffen. Auch ich fühle mich modelliert.

Es ist später Nachmittag im November. Der Himmel hängt voller Wolken, die ab und an blaue Inseln freigeben. Ich sitze am schwarzen, feinkörnigen Kiesstrand in einer kleinen Bucht am Atlantik und blicke auf die untergehende Sonne. In meiner Hand liegt ein schwarzgrauer Kieselstein, rund, angenehm, warm. Vor mir zerklüftete Felsen, auf die das Meer prallt. Sie fühlen sich scharfkantig an.

Wildes Szenario

Brausende Brandung, Wellen mit weißen Schaumkronen rollen auf den Strand zu. Sie tanzen hin und her. Ich sitze, schaue, atme, lausche. Gewaltige Wellen von 3 m Höhe arbeiten sich mit grollender Lautstärke Meter für Meter vorwärts, überschlagen sich, spritzen an den zackigen Felsen noch einmal nach oben, als wollten sie sich gegen den Niedergang aufbäumen. Die Fontänen verwirbeln einen Wassernebel, der sich auf meine Haut legt. Ich atme diese feuchte, salzige Luft tief in meine Lungen, dann bricht die Welle nach unten ab, läuft auf mich zu versickert kurz vor meinen Füssen im Kies, als hätte es sie nie gegeben. Da ist auch schon die nächste Welle, die sich aufbaut. Mit Energie auf mich zusteuert, Höhe gewinnt, um mit Donner und Krachen dann vor mir im „Weisswasser“ der ganzen Gischt- Ansammlung zu enden. Grandios diese Kraft, dieses nicht enden wollende Schauspiel – nicht von Menschenhand gemacht.
Ein paar Felsen auf einer Seite der Bucht, rund gespült, wie kleine Kuppen, ziehen meine Aufmerksamkeit auf sich. Auch der Stein in meiner Hand hat diese Gewalt erfahren. Die Flutwellen mit dicken Schaumkronen steuern mit einer gewaltigen Wucht auf diese Nasen zu, um sie mit dem Schaummantel einzuhüllen. Nur eine Sekunde sehen die Hügel aus wie schneebedeckt, um aber gleich wieder schwarz glänzend aufzutauchen. Hohe Wasserfontänen spritzen dann an ihnen empor, verbreiten einen salzigen Nebel, der sich wie Fahnen an die Wellen hängt. Sie sinken mit lautem Getöse in sich zusammen. Es ist ein wilder aufregender Film, der vor meinen Augen abläuft.

Ein Fenster zum Himmel

Die Sonne hat sich hinter einer großen Wolke versteckt, sie schimmert nur leicht durch die Wolkendecke, verleiht dem darunter liegenden Wolkengrau eine leichte Rosafärbung. Eine kleine Lücke öffnet sich am Himmel und lässt ein paar goldene Strahlen auf das Wasser fallen. Leuchtende, glitzernde Fäden legen sich auf die Oberfläche der Wellen. Ich schaue gebannt, ob sich das Fenster weiter öffnet. Vielleicht kann ich ja doch noch den orangeroten Ball der Sonne im Meer versinken sehen.
Es scheint nicht so.
Kaum ist sie untergetaucht, hinterlässt sie nur noch einen leicht rötlich schimmernden Streifen am Horizont. Die Dämmerung setzt jetzt im November schon früh ein. Ich betrachte noch den Stein in meiner Hand und die großen und kleinen, die vor meinen Füßen liegen, bevor ich den Strand verlasse. Sie sind rund, grau-schwarz oder ocker gefärbt, manchmal etwas gesprenkelt. Wie viele Jahre muss das Meer sie geschliffen haben, dass sie sich so angenehm anfühlen?

Der Alltag formt mich

Fest, geschmeidig und warm liegt der Stein wie ein Handschmeichler in meiner Handfläche. Gibt es vielleicht auch eine Parallele zu meinem Leben? Brauche ich wie die Steine den täglichen Schliff, damit ich erträglicher, angenehmer, geschmeidiger werde, weniger mit meinen scharfen Kanten verletze, anderen oder mir selbst weh tue?
Wenn ich diesen Gedanken weiterführe, dann bin ich mir fast sicher, dass es die vielen kleinen und großen Herausforderungen des Alltags sind, die mich formen. Sie hinterlassen Spuren, berühren mich, dringen manchmal tief in meine Seele ein, verletzen mich vielleicht sogar oder eröffnen mir ein unbeschreibliches Glücksgefühl. Sie bleiben nicht ohne Resonanz. Sie sind es, die mich modellieren, sie sind die Wellen, die sich über mein Leben hinweg bewegen, die mich prägen, mehr aus mir machen, mir Gestalt geben, mir neue Erkenntnisse ermöglichen, mich herausfordern, mir aber auch die Chance zur Entwicklung eröffnen.

Nutze ich diese Chance? Stelle ich mich den Herausforderungen oder auch den Konsequenzen? Damit ich hoffentlich geschmeidiger, vielleicht sogar demütiger oder weiser werde? Ich weiß aus eigenen Erfahrungen, dass schlimme Ereignisse, schwierige Krankheitsverläufe, Verluste von lieben Menschen, aber auch besondere Glücksituationen, wie die Geburt eines Kindes, mich mit Wucht treffen können. Ich kann spüren, wie verletzlich und begrenzt, aber auch wie wundervoll mein Leben sein kann. Diese Erfahrungen können mich, wie die Kieselsteine, „handsamer“ machen. Das heißt aber nicht „ohne Standpunkt“, denn auch der Kiesel bleibt fest in seiner Konsistenz.


Kategorie: Entdecken

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