Spuren, die das Meer verwischt

Weißer langer Sandstrand, blauer wolkenloser Himmel, Blick auf den Atlantik in Südfrankreich. Die Sonne steht hoch, der Wind streift seidig über meine nackten Arme. Ich schaue den Wellen der steigenden Flut zu und meditiere das, was sich meinen Augen zeigt.

Noch ist das Meer weiter draußen. Es hat sich zurückgezogen, dabei aber auch seine Spuren hinterlassen. Der feuchte Sand sieht aus wie mit einem breiten Kamm quer gefurcht. Lange Sandbänke tauchen aus dem Wasser auf. Kleine und größere Wasserlöcher sind entstanden. Ich sitze und schaue. Ab und an überschwemmen die zurückkommenden Wellen die kleinen Hügel. Das Wasser läuft in die Kuhlen. Ich kann zuschauen, wie die Flut kommt. In der Ferne steht ein Leuchtturm mitten im Meer "Phare de Cordouan" Frankreichs ältester Leuchtturm. Ein herausragendes Bauwerk mit einer besonderen Innenarchitektur. Er steht felsenfest im Wasser, hält der Brandung seit über 400 Jahren verlässlich stand. Mein Blick kann sich in der Ferne festmachen, an ihm ausrichten, bekommt Orientierung. Er gibt meinen Augen Halt auf diesem scheinbar endlosen Meer.
Ich genieße die Stimmung. Möwen kreischen ab und an, die Wellen, die an das Ufer klatschen raunen vor sich hin. Ich kann mich auf diesen gleichmäßigen Rhythmus einlassen, spüre, wie sich auch mein Herzschlag auf ihn einstimmt. Wenn ich die Augen schließe, höre ich nur die Möwen und das Klatschen der rollenden Wellen am Strand und spüre den sanften Wind auf der Haut.

Spuren im Sand

Da, wo der nasse Sand den sonnengewärmten Sandabschnitt ablöst, kann ich Fußspuren entdecken. Es sind Spuren von Menschen, die sich in den Sand eingegraben haben. Noch sind sie erkennbar. Sie sind da, als wären sie gerade erst entstanden. Ich könnte sogar sagen, ob sie von einem Mann oder einer Frau stammen, so deutlich sind die Abdrücke. Sie sind klar gezeichnet, selbst die einzelnen Zehen sind sichtbar. Wie lange noch werden sie sichtbar sein? Eine Kette aus Strandgut, Muscheln und Kieselsteinen, zeigt, wie weit die Flut heute noch kommen wird. Da haben die Fußabdrücke keine Chance zu überdauern.

Spuren im Leben

Mich regt dieses Bild der Fußspuren an. Sind meine Spuren im Leben auch so klar erkennbar? Wie lange werden sie sichtbar bleiben. Werde ich überhaupt etwas Sichtbares hinterlassen? Habe ich mich tief in dieses Leben eingelassen? Ich sitze, meditiere, warte, was geschieht.
Langsam kommt die Flut. Auf den Wellen leichte Schaumkrönchen. Sie nähern sich mir mit jedem Ein- und Ausatmen. Die Sandbänke sind schon bald verschwunden, nur noch hier und da ragen ein paar Hubbel aus dem Wasser. Jetzt schwappen einzelne Wellen auch schon ganz leicht in die Fußspuren. Die Vertiefungen füllen sich. Die Fußabdrücke verändern sich, werden immer länger und flacher. Noch sind sie vage erkennbar, aber es wird nicht mehr lange dauern, dann werden sie nicht mehr sichtbar sein. Aber sie waren wirklich da. Ich habe sie nicht geträumt.

Etwas hinterlassen

Ich bin nachdenklich. Auch mich gibt es wirklich in diesem Leben. Verschwinde ich eines Tages auch so spurlos, wenn mich die Erde zudeckt? Was habe ich mit meinem Leben angefangen, was mich hier ein Weilchen überleben lässt, vielleicht wie diesen Leuchtturm, der fest in der Brandung aushält. Er hat schon Generationen den Weg gewiesen. Die Bauleute sind längst verstorben, ihre Namen kann ich noch nachlesen. Sie haben diesen einmaligen Turm erstellt und uns hinterlassen. Er gibt den Fischern Orientierung, Urlaubern eine neue Erfahrung. Was habe ich gemacht, das auch noch nach meinem Dasein präsent sein wird? Welche Orientierung hinterlasse ich? Die Gedanken sinken tief in meine Seele. Sie werden mich noch eine Weile beschäftigen. Finde ich darauf eine Antwort?

Rückblick

Ich habe einiges in meinem Leben erreicht, was mich überdauern wird. Ich habe Kinder geboren, mir wurden Enkelkinder geschenkt, ich pflege alte Freundschaften, habe Bücher geschrieben, Menschen durch meine Arbeit oder meine Ehrenämter unterstützt, ihnen vielleicht sogar Orientierung gegeben.Aber da gibt es auch noch etwas anderes.

Letztes Aufgehoben-Sein

Ich kann mich diesen Fragen spirituell zuwenden und sagen: Ich brauche nichts zu hinterlassen. Wenn ich aus dieser Welt gehe, dann bin ich verschwunden. Diese Deutung kann mich von der Frage befreien, was passiert mit dem, was mir nicht gelungen ist, was unversöhnt zurückbleibt.

Ich kann auch aus der Sicht der asiatischen Religionen das Meer als Ausschnitt für die gesamte Welt anschauen. Ich bleibe in diesem Kosmos indem ich mich in das Ganze hinein auflöse, wenn ich den festen Boden dieser Erde verlasse.

Als Christin hoffe ich, dass ich als Person mit all meinem Wirken in Gott meinen Platz finden werde. Dass mein Leben, meine Seele, mein Tun auf der Erde in einen neuen Aggregatzustand transformiert wird. Ich nehme mein Leben insgesamt mit. Es vergeht nicht. Es bleibt in einer neuen Zeitlosigkeit gegenwärtig. 

 

 


Kategorie: Gesehen

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