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Spiritualität des Wachsens

Spiritualität, die Geisteshaltung, die Wachsen ermöglicht, findet in der Natur ihre Lehrmeisterin. Jutta Mügge beschreibt, wie sie zu dieser Spiritualität gefunden hat.

Der Wald mit seinen unterschiedlichen Laub- und Nadelbäumen, den Beeren, Pilzen und Tieren, die bunten Sommerwiesen, der Bach, in dem ich schwimmen lernte, sie waren als Kind mein Zuhause. Die Natur war meine erste Lehrmeisterin, die mir den Zugang zur Welt erschloss. Sie hat mich innerlich wachsen lassen.

Die Lehrmeisterin Natur

Die Natur war mein Kinderzimmer, in dem ich mich fast mehr und öfter aufgehalten habe als zu Hause oder in der Schule. Ich konnte eine große Nähe zu den Bäumen, Tieren, Pflanzen und zum Wasser entwickeln. Ich durchlebte intensiv und aktiv die verschiedenen Jahreszeiten. Die Früchte des Waldes wurden von Juni bis Oktober gesammelt. Auf den Sommerwiesen pflückten wir die Margeriten, den Sauerampfer, die Kornblumen, die Trollblumen. Irgendwann wurde dann Heu eingefahren. Der Bach mit seinem aufgestauten Becken am Wehr war mein Schwimmbad in dem ich Schwimmen lernte. Im Winter waren wir zum Skifahren auf den abgemähten, mit Schnee bedeckten Wiesen ohne Lift - raufkraxeln und kurz wieder runter fahren. Der Bach wurde zu unserer Schlittschuhbahn und für die Bierbrauerei im Ort zum Eis- Lieferanten, um die Fässer zu kühlen. Die Erfahrungen mit den Jahreszeiten und all dem, was ich in der Natur beobachten konnte, haben mich tief geprägt. Sie haben meine Beziehung zur Wirklichkeit wie meinen inneren Zugangang zur Welt in eine bestimmte Richtung gelenkt. Sie haben mich gelehrt, genau auf das hinzuschauen, was geschieht wie auch, die Konsequenzen wahrzunehmen. Wir waren keine überbehüteten Kinder, hatten noch kein Handy, mit dem wir hätten Hilfe holen können, wenn etwas passierte. Unsere Eltern wussten nicht immer, wo wir uns gerade aufhielten, auch nicht, wenn ich alleine unterwegs war. Wir hatten aber das Vertrauen der Erwachsenen, die uns diese vielen Möglichkeiten nicht verwehrten. Ich bin noch heute froh, dass ich in Kindertagen so viele Erfahrungen in der Natur machen konnte. Sie haben mich vorbereitet auf mein Leben, mein Beobachtungsvermögen geschult, mir Strategien zugänglich gemacht um schwierige Situationen eigenständig zu bewältigen, mir Zusammenhänge erschlossen. Heute sehe ich, dass dieser Ansatz auch meine Spiritualität geprägt hat.

Natur inspiriert

Diese Erfahrungen, bin ich mir im Rückblick sicher, haben meine Berufsentscheidung in die Pädagogik gelenkt. Denn in der Pädagogik geht es um Wachsen, Erwachsenwerden wie in der Natur, es geht um Bedingungen, die das Wachsen ermöglichen oder verhindern, es geht darum, das Leben zu gestalten. Gegenseitige Unterstützung hält das Leben im Ausgleich. Die Natur macht das ohne unsere Hilfe - wenn wir sie lassen würden. Vielleicht hätte ich auch Gärtnerin werden können, denn diesem Beruf liegt eine tiefere Motivation des Wachsens und der Entwickelung zu Grunde. Gärtnern ist Hingabe an das Leben. Es ist ein Geben und Nehmen. Denn alle Arbeit, die ich in den Garten investiere, bleibt nicht ohne Antwort. Da kommt immer etwas zurück. Das kann ich seit 20 Jahren in meinem Garten erleben. Ich sehe auch, dass viele Erfahrungen, die mir die Natur schon in der Kindheit ermöglicht haben, übertragbar sind auf viele unserer Lebensbereiche, auf unsere Familien, Beziehungen, Freundschaften und Arbeitsverhältnisse. Überhaupt auf das Zusammenleben in Gemeinschaften.

Situative Bedingungen zum Wachsen

Als Pädagogin ging es mir beruflich immer darum, Bedingungen zu schaffen, die das innere Wachsen ermöglichen. Nicht das Mehr und Höher im materiellen Bereich, sondern im Geist und in der Seele, in der freien Entscheidung, in der Herzensentwicklung, in der Kompetenz, das eigene Leben zu bewältigen. Stark werden für die Bewältigung von Problemen, die das Leben jedem von uns irgendwann vor die Füße wirft. Als Pädagogin suchte ich oft nach ungewöhnlichen Methoden, wie ich die einzelnen in ihrer individuellen Situation unterstützen konnte. Dafür brauchte ich aber die Erfahrung, dass es auf den genauen Blick ankommt, um die Situation des anderen überhaupt erst zu erfassen, zu erspüren, was er/sie braucht, wo der Schlüssel für die Türe liegt, damit ein neuer Raum betreten werden kann. Diesen genauen Blick auf Situationen übe ich weiter, wenn ich durch meinen Garten gehe. Ich schaue mir jeden Busch, jede Pflanze genau an. Ich prüfe, wie es ihnen geht, damit ich die Ist-Situation erfasse, um unterstützend da zu sein, bevor es zu spät ist. Ist eine Pflanze schon vertrocknet, kann ich sie oft nicht mehr retten. Das heißt für mich im übertragenen Sinne auch, dass in allen Lebens- wie Arbeitsbereichen, wenn etwas gedeihen soll, immer auch die Aufmerksamkeit und Achtsamkeit auf das Wohl aller im Blick sein muss. Nicht zu vergessen auch das Wohl unserer Natur, von der wir schließlich abhängig sind. Wenn ich in unsere Wälder schaue, dann haben wir diese Achtsamkeit vernachlässigt. Ich sehe dringenden Handlungsbedarf, den Blick spätestens jetzt auf die Wunden zu lenken, die wir durch unseren Wohlstand verursacht haben. Da ist das Waldsterben nur eine Facette der Wirklichkeit. Wann sind wir innerlich bereit, Abstriche zu machen, damit unsere Natur wie auch unser Klima sich erholen können?

Meine Spiritualität

Der eigenen Geisteshaltung auf die Spur zu kommen, ist nicht so einfach. Welche leitet mich im Leben? Über das Schreiben, auch mit dem Blick auf meine Kindheit und meine berufliche Entwicklung, bin ich mir und meinen inneren Beweggründen nähergekommen. Es ist eine Spiritualität des Wachsens, die mir mit zunehmendem Alter und innerer Vergewisserung den Blick für das geöffnet hat, was dem Leben zuträglich ist. Dabei ist mein Garten ein gutes Lernfeld und gleichzeitig immer noch Lehrmeister. In ihm kann ich Erfahrungen auf ganz unterschiedlichen Ebenen machen, die mir einen intensiveren Zugang zu meiner Spiritualität eröffnen. Eine Geisteshaltung bleibt nicht beim Wort stehen, sondern wird zur Spiritualität, wenn sie in meinen Lebensvollzügen auch Wirklichkeit wird.
Wenn ich das eingelegte Samenkorn in seinem Wachsen beobachte, spüre ich große Achtung gegenüber der Kraft der Natur, die ohne mein großes Zutun einfach wachsen lässt. Es klingt vielleicht ein wenig altmodisch, aber es macht mich oft demütig. Wenn ich die wunderschönen Blüten der verschiedenen Blumen betrachte, kann ich immer wieder nur über die ausgefallene, extravagante Schönheit staunen. Der Garten belohnt alle meine Sinne. Ich kann ihn riechen, sehen, schmecken, hören. Es ist ein ganzheitliches Erlebnis, das mich aus dem Alltagsanspruch hinausträgt. Wenn ich in der Bibel blättere, finde ich viele meiner Erfahrungen dort wider. Etliche Gleichnisse erzählen vom Garten. Es gibt viele Geschichten zum Garten, zur Natur, zur Fruchtbarkeit in unserem christlichen Glauben. Wenn ich meine Erfahrungen mit den Evangelien in Verbindung bringe, verstehe ich die Gleichnisse sehr viel tiefer. Ich kann mich mehr in das einlassen, was mich in eine neue Sicht, in Ehrfurcht und Achtsamkeit führt. Ich fühle mich verbunden mit allem, was mich umgibt, zugleich eingebunden als aktives Glied in dieser Kette. Mir wird immer deutlicher, wie alles zusammenhängt. Mein und das Leben der anderen sind in enger Verknüpfung untereinander wie mit dem Geschehen in der Natur aufeinander angewiesen. Missachte ich das Wachsen in der Natur, missachte ich auch mein und das Wachsen der anderen. Ich spüre, dass ich mein ganzes Handeln auf das Wohl des Ganzen ausrichten soll, damit es dem Wachstum dient. Zum Wohle der Menschen, der Tiere, der Pflanzen, damit unser Leben in der Balance bleibt.   


Kategorie: Entdecken

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