Im Exerzitienbuch, den Geistlichen Übungen des Heiligen Ignatius von Loyola, soll der und die Betende den Ort betrachten, an dem Gott Mensch werden will. Ich soll mir die Szene ganz genau vorstellen, in meiner Fantasie alle Sinne nutzen, um mich ganz hinein zu fühlen in das Elend. Ich versuche das:
Wie ich mir Gottes Menschwerdung vorstelle
Zwei umherziehende obdachlose Flüchtlinge, auf der Straße, die Frau hochschwanger. Seit Wochen unterwegs. Verschwitzt. Verfilzte Haare. Nicht geduscht. Krankenhäuser gibt’s nicht. Hotels zu teuer. Und selbst die billigen Hostels am Bahnhof lassen sie nicht rein. Die Frau hat schon die ersten Wehen, Geburt im 10-Bett-Zimmer. Wohl kaum. Die Bedingungen, in denen Gott als Mensch geboren wird, sind menschenunwürdig, regelrecht ekelhaft: Geburt in einem Stall. Es stinkt bestialisch nach Tierkot- und Urin, überall Fliegen und Dreck. Man würde am liebsten nicht atmen, in einer Rinne laufen farblich undefinierbare Flüssigkeiten ab. Man muss fast brechen.
Wie kann es mir da jedes Jahr wohlig warm ums Herz werden in der Christmette? Wie um alles in der Welt schaffe ich es immer wieder, dieses Elend zu romantisieren und gefühlsduselig Weihnachtslieder zu singen. Gottes Sohn, o wie lacht?
Diese Vorstellung von der armen Flüchtlingsfamilie im Stall hat nichts mit meiner weihnachtlichen Realität zu tun. Vielleicht hilft ein Blick auf meine
Begegnung mit Roma in Kosovo:
In Kosovo habe ich Kinder und Jugendliche der ethnischen Minderheit „Ashkali“ kennengelernt. Ein kleines Mädchen hat immer eine Rotznase. Sommer wie Winter. Ist sie drei oder vier, vielleicht schon fünf? Viele Kinder sind hier zu klein für ihr Alter. Ihre Zähne sehen schlimm aus. Sie hat Läuse in den Haaren, die kann ich mit dem bloßen Auge sehen. Sie gehört zur ethnischen Minderheit der „Ashkali“. Sie riecht nicht nach niedlich, süß, goldig. Sondern nach Erbrochenem. So riecht doch kein kleines Kind, denke ich. Sie läuft auf mich zu, rennt mir in die Arme. Sie sucht Nähe und Zärtlichkeit. Das Mädchen kennt mich überhaupt nicht und begegnet mir doch völlig angstfrei. Sie will, dass ich sie in den Arm nehme und mit ihr spiele, singe, klatsche.
Die Ashkali sind Zigeuner, Roma, gehören zur größten Minderheit Europas. Zwischen ihnen und den albanisch-stämmigen Elite-Schülern vom Loyola-Gymnasium der Jesuiten sind Freundschaften entstanden. Sie spielen miteinander und machen Musik. Sie lernen und lehren miteinander. Beim Erzählen darüber habe ich oft das Gefühl: Keine Bezeichnung für die Ashkali ist angemessen. „Ashkali“ ist zwar sachlich richtig, das Wort kennt aber fast niemand. „Roma“ empfinden sie selbst als Beleidigung, wollen sich von den Roma abgrenzen. „Zigeuner“ geht eigentlich gar nicht, ist viel zu vorbelastet.
Perspektivwechsel: Die Begriffe weglassen
In der konkreten Begegnung mit den Familien, Kindern und Jugendlichen spielen die Begriffe keine Rolle; nur beim Erzählen, beim Reden über sie. Im Spielen, Musizieren und in der Freude des Zusammenseins rede ich nicht von Zigeunern, Roma oder Ashkali und Kosovo-Albanern, sondern dann bin ich mit Menschen zusammen. „Menschwerdung“ ist nicht abwertend oder entwürdigend gemeint. Die Roma müssen nicht erst Menschen werden, so als ob sie es vorher nicht gewesen wären. Das wäre grotesk.
Vielleicht ist Menschwerdung ein Perspektivwechsel: In der Begegnung mit den Ashkali werde ich davon befreit, sie nur als arme, ausgegrenzte ethnische Minderheit zu bemitleiden, mit dem westeuropäischen Impuls, ihnen irgendwie helfen zu müssen. Menschwerdung für Menschen ist daher nicht als Entwürdigung zu verstehen, sondern als Versuch, und sich jenseits von sozialromantischen Klischees und abgrenzenden Begrifflichkeiten zu treffen.
Wie verstehen Sie Menschwerdung? Ist das ein sinnvoller Begriff? Ich bin gespannt auf Ihre Kommentare.
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