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Ich stolpere über meinen Charakter

Es gibt so viele Situationen, in denen ich mit meiner Person anecken kann. Ich stoße nicht nur auf Ablehnung, sondern schaffe eine Prüfung nicht, werde bei einer Bewerbung nicht genommen, muss einen Schicksalsschlag hinnehmen. Was bedeutet dieses Scheitern aber für mich, für meine Entwicklung.

Wer kennt sie nicht, die schrecklichen Situationen, in denen ich scheitere. Ich bleibe in der Schule sitzen, werde in meinem Job gekündigt, eine langjährige Freundin verlässt mich, ich gerate in finanzielle Schwierigkeiten, ich schaffe die Prüfung an der Uni nicht, ich breche das Studium ab, ich fühle mich ohnmächtig gegenüber Stärkeren, ich gerate ins Elend, werde unzufrieden, ich werde aus einer Gruppe ausgegrenzt

Niederlagen verletzen mich

Niederlagen treffen mein Inneres, ich kann sie als Schmerz spüren. Ich werde unsicher, fühle mich in meiner Person in Frage gestellt, mein Selbstwertgefühl rutscht in den Keller, ich traue mir nichts mehr zu, ich entwickle vielleicht sogar Ängste vor neuen Situationen. Ich mache mir Selbstvorwürfe, weil ich so unbesonnen oder kurzsichtig war. Ich werde vielleicht sogar bockig und sage mir „jetzt gerade“. Niederlagen tun bis ins Mark weh.

Ich suche die Ursache außerhalb meiner Person

Meine spontane Reaktion sucht die Ursache für mein Scheitern erst einmal bei anderen oder zumindest außerhalb meiner Person. Ich mache andere oder die Situation für meine Niederlage verantwortlich. „Weil die Person mich nicht mochte“, „weil die Umstände so waren“, konnte ich nicht......
Ich schaue dabei selten als erstes auf das, was ich mit dieser Niederlage zu tun habe, auf das in meiner Person, das zu diesem Scheitern geführt hat. Es braucht viel Selbstreflexion und einen langen Weg, bis ich erkenne, dass ich die Ursache bin, weil ich durch meine Person bestimmte Situationen herstelle sowie Reaktionen auslöse.

Kenne ich mich?

In jungen Jahren weiß ich es oft noch nicht, worauf die anderen bei mir reagieren. Erst wenn ich mich dafür interessiere, die anderen frage, mich selbst hinterfrage, wenn ich Kritik an meiner Person zulassen kann, erst dann erfahre ich mehr über mich. Denn das, was andere an mir erkennen, kann oder will ich selbst oft nicht so deutlich sehen. Was ist an mir dran, dass ich immer wieder in ähnliche Situationen gerate, die mich in Schwierigkeiten bringen?
Will ich das ein Leben lang so aushalten? Will ich immer diese inneren Schmerzen spüren? Mich ohnmächtig gegenüber anderen fühlen? Will ich immer wieder verlassen werden? Will ich immer Angst haben, wenn etwas Neues auf mich zukommt? Will ich immer wieder unterliegen?

Ich scheitere an der Schattenseite meines Charakters

Wenn ich scheitere, kann ich an mir oder an anderen Menschen bzw. Situationen scheitern. Meistens scheitere ich aber an mir selbst, nämlich an meinem Charakter. In mir gibt es eine bunte Mischung von Verhaltensanteilen, mit denen ich agiere. Dabei spielt aber ein Verhaltensmuster eine besonders dominante Rolle. Wenn ich erkennen kann, welcher Verhaltenszug am stärksten in mir ausgebildet ist kann ich mich auch besser verstehen. Er ist mir im Alltag hilfreich, ich kann ihm vertrauen. Er gibt mir Sicherheit. Ich bilde diesen Charakterzug bereits als Kind im Kontext meiner Familie aus, damit ich meinen ganz eigenen Platz in der Familienkonstellation besetzen kann. Dieses Merkmal dominiert meinen Charakter, es ist meine Stärke. Sie bestimmt meine Ausstrahlung, meinen Umgang mit anderen, meine Sicht auf die Welt und das Leben. Diese Stärke ist erst einmal eine Gabe , auf die ich mich verlassen kann, sie gibt mir Sicherheit. Aber gleichzeitig hat sie auch eine andere Seite. Sie ist es, die mich stolpern lässt. Das klingt paradox, aber es ist eben die andere Seite der Medaille.

Beispiel für ein Charaktermuster und seine Schattenseite:

„Ich muss perfekt sein“. Mit dem Charakterschwerpunkt des Perfektionisten habe ich einen guten Blick für das was gemacht werden muss. Ich erkenne schnell Fehler, ich sehe sofort, was organisiert werden muss, ich kann gut beobachten und weiß wie es richtig geht. Diese Gabe ist aber auf der anderen Seite auch meine Schwäche, mein Schatten. Es gibt nämlich so viele Situationen jeden Tag, in denen ich mich einmischen muss, weil ich Fehler entdecke. Ich kann nicht einfach darüber hinweggehen sondern muss sie anmerken. Eigentlich ist das ja sinnvoll, aber meine perfektionistische Art, die oft auch besserwisserisch rüberkommt, geht dann so manch einem auf den „Wecker“. Wenn ich auf Defizite aufmerksam mache, wenn ich mich beschwere, wenn ich ständig meckere, wenn ich einfordere, das müsste doch...., das sollte.....werde ich so manchem lästig. Niemand will das ständig hören. Ich werde gemieden, als Nörgler oder Besserwisser erlebt, ich werde als schwierig abgestempelt. Andere fühlen sich unter den Augen des Perfektionisten nicht frei.
Das ist nur ein Beispiel für die Stärke und die Kehrseite eines Charaktermerkmals. Wir kennen aber noch etliche mehr.

Meine Chance liegt in der Erkenntnis

Habe ich mein Charaktermuster erkannt, meine Stärke mit deren Schwierigkeiten geortet, muss ich nicht an mir verzweifeln, denn ich bin auf Entfaltung und Entwicklung angelegt. Ich kann an mir arbeiten. Dafür brauche ich aber meinen Willen, denn jede  Krise kann ich nur durch Erkenntnis bearbeiten. Erkenne ich meinen Anteil womit ich die Krise hergestellt habe? Wenn ich sie einfach „abhake“, darüber hinweggehe, die „Schuld“ auf andere schiebe, dann bleibe ich in meinem Muster verhaftet. Selbsterkenntnis gewinne ich durch die Bearbeitung der Krise. Sie ist dann die Grundlage damit ich mir neues Verhalten aneignen kann. Ich bin mir und anderen nicht mehr hilflos ausgeliefert.

Mein Charaktermuster ausgleichen

In welche Krise oder Niederlage ich gerate, kann ich an meinem dominierenden Charakterzug ablesen. Ich kann Niederlagen nicht verhindern, aber ich kann für meine Stärke und das was mich scheinbar sicher sein lässt, ein Gegengewicht entwickeln, das mich mehr in den Ausgleich bringt. Verstehe ich mich mit meiner Stärke und seinen Auswirkungen auf andere, dann sind Krisen und Situationen, in denen ich wieder einmal scheitere, besser zu bewältigen. Ich kann dem nächsten Scheitern vielleicht sogar entgehen, auch wenn ich immer von der Schattenseite meines Charakters bedroht bleibe.

Das Enneagramm ermöglicht einen Einblick in neun starke Charakteranteile, die das Verhalten des einzelnen bestimmen. Zu den verschiedenen Charaktermustern, ihren Stärken sowie typischen Niederlagen oder Krisen mein Text nächste Woche.

Zu den einzelnen Charkatermustern:
Im Beitrag über "Meine Niederlagen" sind der Macher und der Wissende beschrieben
Charaktermuster des Helfers und des Besonderen

 

 


Kategorie: hinsehen.net Verstehen

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