Foto: Jutta Mügge

Gebrechlichkeit

Dieser Baum ist alt geworden. Das kann man an seinem Wuchs und seinen Blessuren erkennen. Um ihn herum noch ein paar alte aber auch junge neue Bäume, die ihm vor dem Sturm Schutz bieten. Er lebt im Schutz einer Gemeinschaft von Jung und Alt. Wenn ich den Baum betrachte, denke ich an mein eigenes Älterwerden. Ich kann viele Parallelen entdecken.

Er könnte mir viele Geschichten erzählen, dieser ehemals stattliche kräftige Baum. Er hat viel erlebt, so manches ist um ihn herum passiert. Es gab Trockenzeiten, Stürme, die er überstehen musste. An diesem Ort wurde vor über 70 Jahren gekämpft. Er hat den Krieg überlebt. Sich tief eingewurzelt mit anderen zu einem kleinen Biotop. Auch wenn er nur so herumsteht ist er für unser Leben unsere Welt wichtig. Er sorgt für Sauerstoff, für Nistplätze von Vögeln, Kleintiere finden ein Zuhause in seiner Rinde. Er vernetzt sich symbiotisch mit Pilzgeflechten. Inzwischen weiß man auch, dass Bäume miteinander kommunizieren, sich gegenseitig unterstützen, damit sie gemeinsam Durststrecken überstehen.

Der Baum tut weiter seine Dienste

Er ist nicht mehr ganz gesund, ein Teil seines Stammes löst sich bereits auf aber seine Kraft ist noch nicht erloschen. Er ist zu tief gegründet als dass diese Wunden für ihn bereits das „Aus“ bedeuteten. Was ist passiert? Wer hat ihn so verletzt, verwundet? Wie konnte er mit dieser Wunde weiterleben? Er muss gute eigene Heilungskräfte gehabt haben um zu überleben.
Ich entdecke kräftige Seitenäste die aus seinem alten geschundenen Stamm austreiben.
Im Frühjahr werden sie wieder grüne Blätter hervorbringen. Seine Krone wird etwas kleiner ausfalle, aber er wird seinen Lebensdienst weiter tun. Vielleicht hat er noch viele Jahre vor sich, um für unsere gute Luft zu sorgen, Vögeln eine Heimat zu bieten. Irgendwann wird ihn ein Sturm knicken.

Ich bin wie ein alter Baum

Auch ich habe schon viele Jahre „auf dem Buckel“ auch in mir gibt es Verletzungen, Wunden, die vernarbt sind. Ich bin an den Verletzungen nicht zu Grunde gegangen, aber sie haben ihre Spuren in meiner Seele hinterlassen. Die Narben sind nicht so auffällig wie bei dem alten Baum. Man kann sie von außen nicht so leicht entdecken. Oder vielleicht doch in den Gesichtsfalten, den manchmal traurigen Augen. Auch ich brauche für meine Wunden starke Heilungskräfte.
Was ist, wenn ich gebrechlich werde, wenn nicht mehr alles so funktioniert, wie es ja jetzt schon langsam anfängt. Es wird wohl auch so sein wie bei diesem Baum. Vieles wächst nicht mehr, weil mir die Kräfte fehlen. Habe ich dann vielleicht wenigstens noch ein paar „lebendige, vielleicht auch neue Äste“, die noch grün werden?
Die Jungen um mich herum müssen ihr Tagwerk vollbringen, so wie ich früher.  Ich kann dann wahrscheinlich nur noch mit einer kleinen Auslese zum Lebensdienst beitragen. Was kann dann mein Beitrag dann noch sein?
Ich spüre schon, dass es in mir noch Ungelebtes gibt, was an die Stelle dessen treten könnte, wo früher die Verpflichtungen der Arbeit standen.  Aber wie soll ich das anstellen, dass es zum Leben kommt? Das Neue wächst nicht einfach so von selbst. Meine innerlichen und leisen Seiten, auf die es dann ankommen wird, sind während meines Arbeitslebens immer zu kurz gekommen. Meine Aufmerksamkeit war nach außen orientiert. Es gab einfach zu viel zu tun, zu wenig Ruhe, zu wenig Bereitschaft für Besinnliches. Das wurde als Luxus abgetan. Vielleicht einmal im Jahr Exerzitien. Jetzt kann der Luxus Alltag werden, denn dafür habe ich Zeit und Muße. Es sind die ersten Schritte in neue Äste, die mich dann noch eine Weile lebendig halten, auch wenn der alte Stamm gebrechlich wird.

Wie verwurzelt bin ich, dass ich Gebrechlichkeit aushalten kann?

Der Baum trägt seine sichtbaren Verletzungen mit Würde, wird von den anderen nicht ausgegrenzt, er steht mitten unter ihnen. Sie geben ihm Schutz. Lassen ihn noch sein Lebenswerk beenden. Aber nicht nur die anderen tragen ihn durch seine letzte Lebenszeit. Seine Wurzeln sind es, die ihm Halt geben. Er ist tief gegründet. Wie wird das wohl bei mir sein? Habe ich mich im Leben so tief eingewurzelt, dass ich bis zu meinem Ende Halt finde? Wird mich mein Glaube auch in schweren Zeiten nicht im Stich lassen? 



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