Es gibt genügend Gründe, das Zimmer zu meiden
Wenn ich die Türe öffne, könnte ich etwas entdecken womit ich mich nicht auseinandersetzen will. Vielleicht bin ich auch zu bequem, weil ich ahne, dass sich hinter dieser Türe etwas verbirgt, das etwas von mir fordert. Möglicherweise ist es mir auch gleichgültig, weil ich das Religiöse für mein Leben gerade nicht brauche. Manchmal spielt auch alter Ärger eine Rolle, weil ich irgendwann mal enttäuscht wurde oder weil mich andere gezwungen haben, dieses Zimmer zu betreten. Da schwingen noch schlechte Gefühle mit.
Außerdem kann es auch sein, dass ich mein Leben einfach anders verstehe, da gibt es in meiner Weltsicht nichts Erhabenes, dem ich mein Leben verdanke, nichts das der Mensch nicht erreichen könnte. Alles ist lösbar. Ich orientiere mich deshalb an dem, was ich mit meinen Augen sehen und verstehen kann. Das, was in diesem Zimmer passiert, ist allenfalls nur fühlbar, aber nicht sichtbar. Woher soll ich wissen, dass es stimmt? Manchmal fehlen auch andere Menschen, die mir den Zugang zu diesem Zimmer eröffnen könnten, denn das Zimmer hat keinen Schlüssel.
Kann ich noch staunen
Es ist weder von außen noch von innen abzuschließen, denn seine Tür hat kein Schlüsselloch. Der vermeintliche Schlüssel ist vielleicht das Staunen. Kann ich noch staunen über das Schöne, das mich umgibt, über die Natur, die sich mir so vielfältig und bunt zeigt, über Momente, die unerklärbar sind aber dennoch wahr. Kann ich staunen, wenn ein Kind geboren wird, über den Frühling, der die Tristesse des Winters verabschiedet, über das kleine Samenkorn, das zu einem Baum heranwächst. Kann ich noch staunen, wenn ich einem Menschen begegne, der mich liebt, der mir Vertrauen schenkt? Kann ich noch staunen, wenn ich Fremden begegne, die mir schnell vertraut sind, ich Seelenverwandtschaft spüre? Es ist das Staunen, über das Geschenk, das ich nicht machen kann. Da wirken andere Kräfte. Das Staunen ermöglicht mir, einen ersten Schritt über die Schwelle dieses mysteriösen Zimmers zu setzen.
Über die Schwelle gehen
Wenn ich dann hineingehe, kann ich noch mehr staunen. Denn in diesem geheimnisvollen Raum wohnt auch mein kleines Ich. Dort sitzt mein Lebensgrund, mein unzerstörbarer Personenkern. Da sitzt meine Freiheit, komme was wolle. In diesem Zimmer kann ich auch meinen Lebensauftrag entdecken, meine Berufung finden. Es ist ein Zimmer mit vielen Perspektiven. Ich kann auch spüren, dass so manches Ungemach, das ich mit in diesen Raum nehme, an Brisanz verliert. Hier werden manche Sorgen des Alltags oft zu Banalitäten. Ich spüre in diesem Zimmer, dass ich nur Gast auf dieser Erde bin, dass ich geboren bin, um zu sterben, dass aber diese Zeitspanne, die mir geschenkt ist, wie lange oder kurz sie auch sein mag, für mich und andere zum Segen, zur Erfüllung werden soll. Ich kann sie mit der Kraft aus diesem spirituellen Zimmer gestalten. Ich kann meinen Beitrag mit der Sicherheit leisten, die ich aus diesem Zimmer mit in die Welt nehme.
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