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Die Lähmung durchstehen

Seit mehr als drei Wochen befinde ich mich, weil ich zur Hochrisikogruppe zähle, in strikter Einzelquarantäne. Alle Begegnungen sind gecancelt. Das wirkt auf meine Seele. Eine solche Phase, haben schon die Eremiten in der ägyptischen Wüste durchstehen müssen. Sie nannten das Gefühl „Acedia“, Herzens-Trägheit.

Mein Leben scheint unterbrochen, Begegnungen, Treffen, Reisen, die mir als Beziehungsmensch die Seele nähren, mir aber auch Struktur geben, wurden nicht gestrichen, um sie ausfallen zu lassen, sondern nur um sie zu verschieben. Verschieben auf die Zeit nach Corona. Nach mehr als drei Wochen bleibt das nicht ohne Wirkung. Es entsteht Leere, die sich auf die Seele legt. Dieses Aussteigen aus dem bisherigen Leben, zu dem ich gezwungen bin, haben die Eremiten im frühen Christentum freiwillig gewählt und mussten durch diese Phase hindurch. Sie nannten diese kaum zu ertragende Seelenlage „Acedia“, Herzens-Trägheit.

Viel frei Zeit

Jetzt gab es plötzlich viel freie Zeit, die ich auch gut füllen konnte. Ich hatte Energie und Kraft, mich in Ruhe um das zu kümmern, was liegen geblieben ist. Es hat sogar gute Gefühle hinterlassen. Der Ballast war reduziert. Inzwischen sind meine Fenster geputzt, damit ich wieder klare Sicht habe. Die Schränke sind einigermaßen aufgeräumt. Ich habe mich von Sachen getrennt, die ich sowieso nicht mehr brauche. Meine Jahreseinkommenssteuer ist abgegeben. Mein Garten ist für die neue Wachstumsphase bereitet. Ich bin so gut wie „fertig“. Was jetzt?
Eigentlich klingt das doch richtig gut! Ich könnte mich zurücklehnen, um aufzutanken. Aber es fühlt sich gar nicht so gut an.

Antriebslos

Was bewegt sich da in meinem Innern? Ich spüre, dass ich antriebsloser werde, dass mich Traurigkeit überfällt, mich lähmt. Was bedeutet diese Lethargie?  Nicht dass mir jetzt die Decke auf den Kopf fallen würde, nein ich finde immer irgendetwas, womit ich mich beschäftigen kann, aber es fehlt mir an engagierter Energie dafür. Es ist auch deshalb nicht so richtig gut, weil mich Wehmut befällt. Sie schleicht sich in meine Seele, wo sie sich wie ein dunkler Nebel auf meine Stimmung legt.  Es tut richtig weh, macht mich schwermütig.

Keinen Grund

Eigentlich habe ich doch keinen Grund zu klagen. Wir haben keine Ausgangssperre, die mich zwingen würde in der Wohnung zu bleiben, ich werde gut versorgt, so dass es an nichts fehlt. Die vielen Telefonate, WhatsApps, maile, SMS, Yoga mit Zoom, verbinden mich mit den Menschen draußen. Ich weiß, dass meine Lieben an mich denken, mich versorgen, dass ich bei meinen Freunden nicht verloren gehe. Vielen Menschen geht es wirklich schlechter. Bin ich undankbar? Ich bin zwar allein, aber nicht einsam. Weshalb dann dieses Stimmungstief?

Seelenhunger

Nach einer Nacht mit vielen Wachphasen ist mir klarer, was mich da befällt. Meine Seele hungert. Mir fehlen die direkten Berührungen, die mich wärmen, das Lächeln, das mich meint. Ich suche die Augen, die mich anschauen. Sie sind wie Fenster zur Seele des anderen, damit ich mich mit ihr verbinden und verständigen kann. Ich vermisse die Gestik, mit der Worte oft erst ihre wahre Bedeutung gewinnen. Ich brauche die Nähe. Das Leben fühlt sich ohne direkten Kontakt so stumpf an.
Die Verbindungen über die digitalen Medien, so hilfreich sie sind, um sich überhaupt noch im Leben draußen dazugehörig zu fühlen, schaffen es aber nicht, mich aufzufangen. Die Technik kann diesen Anspruch nicht leisten, da bleiben Beziehungen trocken.

Ohnmacht

Es ist alles so unwirklich, was gerade geschieht. Das verunsichert auch meinen Blick auf das Geschehen. Wo liegt die Wahrheit? Ich kann nicht mitmischen, um mich in das Geschehen einzubringen. Ich bin zur Beobachterin geworden. Selbst wenn ich wollte, könnte ich diese Position nicht verlassen, weil ich dann die Sorgfalt für mein Leben aber auch für das der anderen missachte. Ich stecke in einem Dilemma.

Gefühle ernst nehmen und die Phase durchstehen

Es gab noch keine Pandemie, die so viel Einfluss auf mein Leben genommen hat, aber ich kenne diese Traurigkeit, die Antriebslosigkeit auch aus früheren Krisenzeiten. Ich bin damals nicht in der Depression gelandet, das gibt mir die Hoffnung, dass ich auch diesen Einbruch in mein Seelenleben überstehe. Gefühle wollen wahrgenommen werden, erst wenn ich ihnen die Aufmerksamkeit gebe, die sie gerade einfordern, verlieren sie irgendwann die Macht über mich. Aus der Erfahrung weiß ich, dass ich diesen Zustand aushalten muss. Ich soll mich diesen Gefühlen stellen, sie ernst nehmen, weil sie eine Bedeutung für meine Entwicklung haben. In der akuten Phase kann ich sie nicht direkt erkennen, aber vielleicht im Nachhinein.

Körperlicher Ausgleich

Die momentane Phase wird mich weiterbringen, wenn ich durchhalte. Um mich nicht mit Nichtigkeiten oder Fernsehkonsum abzulenken, was bedeuten würde vor den Gefühlen davonzulaufen, brauche ich aber körperlichen Ausgleich. Ich muss die Trägheit überwinden. Mehr kann ich gerade nicht tun, außer auch mit dem Niederschreiben meinen Gefühlen auf den Grund zu gehen. Ich laufe, wenn möglich jeden Tag oder fahre mit dem Fahrrad durch die Gegend. Es wird andere Zeiten geben, in denen mich diese momentanen Gefühle nicht mehr beherrschen.

Acedia, die alten Wüstenväter kannten das schon

Jeder, der von diesen Gefühlen gerade befallen wird, kann sich an den Erfahrungen der alten Wüstenväter orientieren, aber sich auch trösten lassen. Denn sie kannten die Phase der Lähmung in ihrem Dasein als Eremiten sehr genau. Sie wird „acedia – die Trägheit des Herzens“ genannt. Es ist nichts Außergewöhnliches, sondern gehört zu einem normalen spirituellen Prozess. Es ist eine Phase, in die wir fast automatisch geraten, wenn wir über längeren Zeitraum auf uns verwiesen sind. Sie ist eine Durchgangsphase in einen nächsten Entwicklungsschritt. Sie ist wie eine Prüfung, die wir durchstehen müssen.

In der E-Mail meiner Yogalehrerin Katja Thomson habe ich gelesen: Yoga am Meer:
„Das oft unbequeme Aushalten in einer schwierigen Yoga-Position ist zu vergleichen mit unserer jetzigen Situation. Auch jetzt gilt es, etwas Unbequemes, Schmerzhaftes Anstrengendes auszuhalten. Es wird uns verändern.“


Kategorie: Verstehen

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