Ich kann mir ein Leben ohne Digitalisierung nicht mehr vorstellen. Diesen Artikel schreibe ich im ICE sitzend. Mein Laptop ist an der Steckdose angeschlossen, den Artikel werde ich über das ICE-WLAN hochladen. Als freiberuflicher Journalist bin ich Bahnvielfahrer, habe den BahnComfort-Status. Damit darf ich in die DB Lounge an den großen Bahnhöfen. Seit Kurzem gibt es dort eine Neuerung. Nicht die Mitarbeiterin am Empfang kontrolliert die Bahncard, sondern ich muss die Karte durch ein Gerät auf der Theke ziehen, das dann grün leuchtet und auf dem Display „Herzlich willkommen!“ anzeigt. Manchmal klappt das nicht. Die Mitarbeiterin beobachtet den Vorgang – und sagt dann: „Bitte nochmal!“ oder „Mit dem Magnetstreifen nach unten!“ Und manchmal wirft sie dann doch einen Blick auf die Bahncard, wenn das Gerät sie einfach nicht akzeptiert. Sammelt die Bahn dort die Information, wie oft ich wo in die DB Lounge gehe – oder wozu dient dieses Gerät? Vermutlich. Jedenfalls hat das Gerät die menschliche Mitarbeiterin fast vollständig ersetzt, aber noch nicht ganz. Stattdessen arbeitet der Mensch jetzt der Maschine zu, erklärt dem anderen Menschen, was er tun muss, um die Maschine zufriedenzustellen.
Der menschliche Mitarbeiter muss dabei doch das Gefühl haben, das Gerät kann die Aufgabe für den Kunden und für meinen Arbeitgeber besser erledigen als ich. Die Digitalisierung aller Lebensbereiche, die mit Vereinfachung, schnelleren, angeblich einfacheren, angenehmeren Abläufen einhergeht, hat auch die Digitalisierung der meisten Arbeitsplätze zur Folge. Das bedeutet: Menschen müssen immer mehr wie Maschinen denken, ja sogar mit Maschinen konkurrieren. Maschinen sind aber Sklaven. Menschen müssen also mit Sklaven konkurrieren, sich ihnen angleichen.
Marc-Uwe Kling beschreibt diese Problematik in seinem jüngst erschienen, digitalistisch-dystopischen Roman „Qualityland“. Im fiktiven Präsidentschaftswahlkampf zwischen einem Androiden und einem Menschen lässt er den amerikanischen Schriftsteller Kurt Vonnegut (+ 2007) zu Wort kommen: „Maschinen sind Sklaven. Jeder, der mit einem Sklaven konkurriert, wird selbst zum Sklaven.“ Menschen haben angesichts der immer intelligenteren Maschinen, dem Internet der Dinge, keine andere Wahl, als selbst zweitklassige Maschinen zu werden.
“The machines are to practically everybody what the white men were to the Indians. People are finding that, because of the way the machines are changing the world, more and more of their old values don’t apply any more. People have no choice but to become second-rate machines themselves, or wards of the machines.” (Karl Vonnegut Jr., Player Piano, 1952)
Vor zwei Wochen brachte Tief „Xavier“ Sturmschäden nach Nord- und Ostdeutschland. Die Bahntrassen waren gesperrt. Ich wollte von Hannover nach Berlin. Fährt mein Zug? Darf ich trotz Sparpreis den nächsten nehmen? Die Informationsschalter im Bahnhof waren überfüllt. Hunderte Menschen standen an. Lohnt sich das für mich? Meistens „weiß“ die Bahn-App doch mehr und gibt schneller Auskunft als die Mensch-Mitarbeiter an den Schaltern. Die schauen auch nur in einen Computer. Für mich ist die App doch angenehmer. Ich muss mich nicht anstellen, kann einen Kaffee trinken, bis mein verspäteter Zug kommt. Für den Bahnmitarbeiter stelle ich mir das frustrierend vor. In anderen Tätigkeitsfeldern kann das auch beobachtet werden.
Die Menschen arbeiten den Maschinen zu, erledigen Aufgaben, die die Maschinen besser und schneller können, stehen oft sogar hilflos daneben, wenn der Computer auch als Mitarbeitendem bestimmte Vorgänge verweigert. Der Gewinner sind die Konzerne, die mit weniger Personal, das immer einfachere, stupidere Tätigkeiten ausführen muss, Geld sparen und höhere Gewinne einfährt.
Arbeit kann heute auf diese Weise kaum noch Identität und Sinn stiften. Viele Menschen, etwa in die Freiberuflichkeit Gezwungene, Zeitarbeiter, aber auch Arbeitslose auf Fortbildungen, sind zwar beschäftigt, aber können sich wegen der digitalisierten, automatisierten Arbeitsvorgänge, die sie ausführen, nicht mehr mit ihrer Tätigkeit identifizieren. Auf der Suche nach Sinn, Gemeinschaft und Identität, einem Auftrag für das eigene Leben, suchen Menschen sich daher vermehrt Angebote zur Imagination derselben. Sie fliehen vor Sinnlosigkeit, Isolation und Identitätsverlust und finden Halt in Nationalismus, Fundamentalismus und Konsumismus. Diese Angebote sind eine Imagination, sagt Kling, sie gaukeln den Menschen Sinn und Gemeinschaft vor, die von vielen Beschäftigungen kaum oder gar nicht mehr geboten werden können.
Diese Auswirkungen der Digitalisierung sind im Bundestagswahlkampf nicht zur Sprache gekommen. Martin Schulz hat davon nichts gesagt, dabei geht es doch um sein Thema: „Gerechtigkeit“. Die FDP hat Digitalisierung einfach nur als technischen Fortschritt proklamiert. Sie müsse Thema in den Schulen sein und WLAN für alle Klassenräume. Aber was folgt denn daraus? Der Spitzenkandidat Christian Lindner war als Digitalhipster mit Smartphone und Kopfhörern auf den Plakaten. Die Arbeitsbedingungen werden prekärer, denn die Löhne für Menschen, die nur noch den Maschinen zuarbeiten, werden niedriger sein. Gleichzeitig wird diese Entwicklung zu einer höheren Burnout-Rate führen, denn die Menschen sehen immer weniger Sinnerfahrungen aus ihren Tätigkeiten. Und der Zulauf zu den extremistischen, fundamentalistischen Gruppierungen wird anhalten.
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