Mein Lebensschiff zur Inspektion; Foto: hinsehen.net E.B.

Das Jahr verarbeiten - Ballast abwerfen

The same procedure as every year? Bei „dinner for one“ geht es darum, immer wieder ein und dieselbe Geschichte zu wiederholen. Es ist und bleibt ein witziger Sketch. Wenn ich aber zu Silvester auf die Ereignisse des Jahres schaue, dann geht es nicht um „Wieder Dasselbe“, sondern um neue Erfahrungen.

Ereignisse analysieren

Die Erfahrungen von Januar bis Dezember haben Gewicht, denn sie spiegeln mein Leben in diesem Zeitraum. Sie hinterlassen auch Empfindungen und führen zu Erkenntnissen. Sie haben es verdient, dass ich mir noch einmal die Zeit nehme, um auf die Ereignisse zu schauen. Es geht nämlich darum, die Spreu vom Weizen zu trennen. Das anzuschauen, was wirklich wichtig war, es zu würdigen und ernst zu nehmen. Nicht alles, was ich angeleiert habe, ist gut gelaufen, anderes ist misslungen. Alles gehört zu meiner Person. Es sind meine Erfahrungen, mit allen meinen Fähigkeiten, meinem Unvermögen, meiner Umsicht wie auch meiner Nachlässigkeit. Wenn ich mir die Zeit nehme, sie wirklich zu betrachten, kann ich erkennen, was zum Gelingen beigetragen hat, wo ich meinen Vorstellungen gefolgt bin, was mich vom Weg abgebracht hat, was ich vernachlässigt oder wo ich mich verkalkuliert habe. Mit diesem Blick auf das Jahr kann ich auch Veränderungen in meinem Verhalten feststellen. Gehe ich einfach darüber hinweg, verbaue ich mir die Chance, mich weiter zu entwickeln. Erst die Analyse der einzelnen Erinnerungselemente zeigen mir, welches Glück ich hatte, welche Fehler ich gemacht, welchen Weitblick ich eingesetzt, welche Dummheit ich begangen habe. Wenn ich genau hinsehe, kann ich vielleicht auch die Ursachen für das Misslungene, für meine Niederlagen herausfinden, um nicht die gleichen Fehler zu wiederholen. Betrachte ich so mein Leben der vergangenen Monate, kommt auch immer deutlicher zum Ausdruck, wovon ich mich im Leben leiten lasse. Welchen Werten ich folge und wo ich mich vielleicht auch von diesem Weg abbringen lasse. Ich gewinne mit jedem Jahresrückblick neue Sicherheit, neuen Stand im Leben.

Das Gute erkennen

Wenn ich mich frage, welches einschneidende Erlebnis mich im vergangenen Jahr besonders gefordert hat, blicke ich auf ein Ereignis, mit dem ich 3 Monate, von Januar bis März, in „Einzelhaft“ verbrachte. Der Bruch meines Sprungbeins hat mich zusätzlich zur Corona-Isolation in eine Situation geworfen, die mich „lahm“ gelegt hat. Im Rückblick versuche ich, sowohl darauf zu schauen, was für mich daran schwierig war, aber auch in den Blick zu nehmen was ich aus dieser isolierten Lebenszeit gewonnen habe. Da gibt es nämlich beides. Es hat mich gestärkt, die vielen einsamen Tage auszuhalten, den für mich ungewohnten hilflosen Zustand zu ertragen. Ich hatte ja keine andere Wahl, aber erst diese Erfahrung hat mir gezeigt, dass ich das kann, ohne in tiefe depressive Stimmungen zu versinken. Eine wichtige Erkenntnis, denn wer weiß schon, wie das Alter einmal werden wird. Bin ich dann in der Lage, das Alleinsein friedlich durchzustehen? Die Erfahrung, dass ich trotz Isolation nicht einsam war, weil es Menschen gab, die mich versorgten, für mich da waren, mir einkauften oder mich in der Wohnung unterstützten, hat meiner Seele gutgetan. Ich konnte spüren, dass ich noch dazu gehöre, nicht aus dem System gefallen bin.

Als ich dann wieder laufen konnte, war für mich mein Garten ein großes Geschenk. Ein frisches Frühjahr und ein warmer Sommer haben zu einer reichlichen Tomaten-, Kartoffel- und Zucchiniernte geführt. Meine Tage waren angefüllt mit Säen, Gießen, Ernten. Der warme Sommer hat auch wieder viele Begegnungen in meinem Garten zugelassen, die mich für die einsamen Monate am Jahresbeginn entschädigten. Ich habe es genossen, Gastgeberin zu sein, fand es aber auch schön, mich als Gast bei anderen verwöhnen zu lassen.

Sich Zeit nehmen

Jetzt am Jahresende bietet mir die Woche nach Weihnachten die Zeit, mein Jahr noch einmal anzuschauen, es tiefer zu verstehen, Begegnungen deutlicher zu erfassen, Ereignisse zu verarbeiten. Das Gute will ich in meinem Seelenhaus bewahren. Es soll mich in die nächsten Jahre begleiten, mir Sicherheit und Orientierung geben. Dafür brauche ich Zeit, Ruhe, Meditation. Ich nehme sie mir an Silvester, denn es ist seit vielen Jahren Brauch bei mir, dass ich die Silvesternacht zu Hause, ohne große Ablenkungen verbringe. Ich möchte mein Seelenhaus in Ordnung halten, das geht nur, wenn ich es ab und zu aufräume, altes Verbrauchtes entsorge, Belastendes entlaste, das Gute konserviere, Platz mache für die nächsten 365 Tage.

Das Gute bewahren

Das was ich als hilfreich und Gut erkennen kann, hebe ich auf, damit ich es nicht vergesse. Dafür mache ich mir ein paar Notizen in einem schönen kleinen Tagebuch, das mit Leinen bezogen ist. Das Gute bleibt so verfügbar für schwere Zeiten. Ich kann daraus Mut schöpfen, um neue Schritte zu wagen. Ich nehme es mit, um es weiter zu entwickeln. Z.B. die Ernährungsregeln 16:8, die ich seit dem letzten Jahr in meinen Essensgewohnheiten verfolge, das tägliche Yoga und das Nordic Walking wie das Schwimmen. Meine regelmäßigen Begegnungen mit meinen Freundinnen wie die Treffen zum Spielen. Auch das Schreiben will ich nicht lassen, es hilft mir, meine Gedanken zu ordnen, meine Sicht auf die Welt zu artikulieren.

Aus den Misserfolgen Konsequenzen ziehen

Das was nicht so gut gelaufen ist, was mich niedergedrückt hat, was ich vermasselt habe, hole ich mir nicht so gerne nochmal vor Augen. Am liebsten würde ich diese Situationen einfach so aus meinem Gedächtnis streichen. Damit ich es wirklich ablege, braucht es erst einmal die Würdigung. Es will gesehen werden und mich darauf aufmerksam machen, dass ich Konsequenzen ziehen muss. Diese finde ich heraus, wenn ich mich den Ursachen nähere. Ich muss schon herausfinden, weshalb das so und nicht anders gelaufen ist. Denn lasse ich die „schlechten“ Erfahrungen unbeachtet, werden sie in mir keine Ruhe geben und mich erneut heimsuchen. Es geht hier um Versöhnung. Versöhnung mit meinem Ungenügen heißt auch, erst einmal die Realität zu akzeptieren, den Anteil zu erkennen, der von mir ausgegangen ist und mich mit diesem Makel anzunehmen. Erst jetzt kann dieser Mangel aus meiner Person heraus ans Licht treten und einen eigenen Platz außerhalb meiner Selbst einnehmen, so dass ich ihn mit ein bisschen Abstand noch näher betrachten kann. Wenn ich es über mich bringe zu sagen, „ja das gehört auch zu mir“, „das bin ich auch“, kann ich mich vielleicht mit meinem Defizit versöhnen. Ich kann mir vergeben. Vergebung bedeutet auch Entlastung und neue Freiheit.

Neue Chance

Ein neues Jahr, eine neue Chance. Sie kann sich verwirklichen, wenn ich den Ballast des Alten Jahres abgelegt habe, Platz für Neues geschaffen habe. Die Ereignisse, Begegnungen, Erfahrungen hole ich mir noch einmal vor Augen. Ich schaue auf das, was ich erlebt habe, was mir begegnet, was mir widerfahren ist, was mir geschenkt wurde oder ich verschenkt habe, aber auch auf das, was für mich im Jahr schmerzhaft war. Ich frage mich auch, welche Konsequenzen ich aus dem einen oder anderen Erlebnis ziehe. Das kleine Tagebuch lege ich neben mich, in das ich meine Gedanken schreibe. Alles schwingt hin und her wie in einer Wasserschüssel, die ich von rechts nach links bewege.

Mit den folgenden Fragen kann ich mein Jahr reflektieren:

  • Welches Ereignis, welche Begegnung ist für mich erinnerungs-wert geblieben und hat mir Auftrieb gegeben?
  • Was hat mir einen neuen Horizont eröffnet? Was hat mir Kraft gegeben?
  • Was belastet mich noch? Was ist misslungen? Was ist nicht versöhnt? Was ist nicht abgeschlossen?

Die Reise durch mein Seelenhaus in der Silvesternacht ist jedes Jahr wieder spannend, wohltuend gleichzeitig entsteht das Gefühl von großer Dankbarkeit für alles was mir geschenkt wurde. Ich mache Platz für Neues.

 

 


Kategorie: Entdecken

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