Missmut führt zu Gewalt, St, Michael Hildesheim, Foto: hinsehen.net E.B.

Das Böse entsteht aus Begehren und Missmut

Das Böse bildet sich wie Gewitterwolken, die sich verdichten und dann Blitze aussenden. Bei genauerem Hinsehen entpuppt es sich als Phänomen, das zwischen Menschen entsteht. Das erzählen Mythen rund um den Erdball. René Girard hat sie genauer untersucht.

Das Begehren und die Nachahmung

René Girard sieht in der Nachahmung, von ihm Mimesis genannt, den Wurzelgrund des Bösen. Er hat das zuerst an Romanen des 19. Jahrhunderts, vor allem bei Dostojewski, entdeckt und dann an den Opfermythen der ganzen Welt nachgewiesen. Seine Erklärung, die man immer wieder durch Beobachtung überprüfen kann, situiert er in der fehlenden Determination des Menschen. Dieser ist nicht von äußeren Einflüssen oder inneren Antrieben gelenkt, sondern unbestimmt und kann daher sehr viel mehr anstreben als ein Tier. Aber da er nicht alleine lebt, sondern auf der Basis der Sprache in das soziale System wie auch in die Handlungsoptionen anderer verflochten ist, orientiert er sein Begehren nicht direkt an seinen Vorstellungen, sondern an dem, was die anderen wollen. „Ich will etwas, nicht weil ich es mir vorgenommen habe, sondern weil ein anderer es will“. Wenn es der andere will, dann ist es auch für mich lohnender, denn ich kann mich in meinem Wollen irren. Wenn jedoch andere etwas wollen, dann muss das auch zu bekommen sein und mir sogar zustehen. Man kann das an einem einfachen Experiment überprüfen.

Vier Kindergartenkinder werden in einen Raum geführt. In jeder der vier Ecken des Raumes liegt das gleiche Spielzeug. Eigentlich ist zu erwarten, dass jedes Kind in eine der Ecken geht und spielt. In den meisten Fällen werden die Kinder sich jedoch beobachten und dann das Spielzeug haben wollen, das das erste Kind für sich ausgewählt hat.

Die unbestimmte Offenheit des Handlungsrahmens auf der einen Seite und die Sozialität des Menschen auf der anderen Seite bestimmen nach Girard die Situation, aus der erst einmal ein ständiges Sich-Vergleichen folgt, das dann leicht in Eifersucht, Neid, Streit, Enttäuschung umschlägt.
Weil der Mensch das begehrt, was der andere will, also gerade nicht durch den Trieb gesteuert wird, sondern durch das Auswahlverhalten anderer, funktioniert z.B. Mode. Die Influencer bestätigen die Beobachtungen von Girard: Sie zeigen, was man anzieht, wie man sich schminkt, wie man ein Computerspiel erfolgreich spielt. Auch gesellschaftliche Trends und religöse Überzeugungen werden zur Nachahmung von Gleichaltrigen vorgestellt. Mimesis hilft durch den Vergleich mit anderen und der daraus folgenden Nachahmung Energie für den Abschluss eines Projektes, einer Dissertation zu gewinnen. Neben vielen positiven Auswirkungen der Mimesis gibt es auch viele hemmende. Die deutsche Einheit ist von dieser Gesetzlichkeit belastet. Die Menschen in den Neuen Bundesländern vergleichen ihre Situation ständig mit der der Alten Bundesländer. In anderen ehemaligen kommunistischen Ländern war das nicht gegeben, man konnte sich leichter, d.h. ohne durch Vergleichen abgelenkt zu werden, um das Notwendige kümmern.
Weil wir ständig andere beobachten und unsere Entscheidungen danach treffen, was andere anstreben, entsteht nicht nur Gerede. Es verhaken sich die Beziehungen. Das geschieht schon allein dadurch, dass über einen anderen in dessen Abwesenheit „hergezogen“ wird. Unzufriedenheit wird so geschürt, die Stimmung wird schlechter. Aus diesem Sumpf heraus entstehen die Untaten. Es fängt nicht mit bösen Absichten an, sondern mit schlechter Stimmung. Diese entsteht durch Neid, Eifersucht, durch sich Zurückgesetzt-Fühlen, durch enttäuschte Erwartungen.

Der Sündenbock oder die Dynamik des Mobbing

Wenn die Beteiligten sich in ihren negativen Gefühlen verhakt haben, muss irgendetwas geschehen, um die Stimmung zu ändern. Das gelingt nun nicht dadurch, dass man zusammen etwas Schönes macht, z.B. einen Ausflug unternimmt, ein anstehendes Fest besonders intensiv feiert. Dadurch werden die negativen Gefühle nicht weggeblasen, sie verdichten sich eher in Formen der Gewalt. Diese Gewalt muss sich allerdings kanalisieren. Denn die menschliche Sippe wäre in ihrem Bestand gefährdet, wenn die Gewalt sich wahllos gegen jeden richten würde. Das passiert nur in Umbruchsituationen, dass jeder mit seinen Feinden abrechnet. Bürgerkriege erklären sich in ihrer Heftigkeit dadurch, dass alte nachbarschaftliche Konflikte so beglichen werden. Wir haben solche Kettenreaktionen auch im Faschismus wie im Kommunismus gehabt. Es traf nicht nur die zum Feind der Rasse oder Nation Stigmatisierten. In Deutschland war der blonde, 1,80 m große Mann trotz der Rassenlehre nicht sicher vor KZ oder Erschießung. Die wahllose Verurteilung und Hinrichtung von Sowjetbürgern unter Stalin zeigt ein ausuferndes Gewaltsyndrom, dessen Prinzip war, dass keiner vor einem Schauprozess sicher sein konnte.
Diese Mechanismen, die in Deutschland, Russland, Ruanda, Kambodscha, in China und auch in den Hexenprozessen wirksam wurden, bedrohten schon die ersten Menschengruppen. Hätte die Menschheit nach diesem Muster die mit Notwendigkeit entstehenden schlechten Gefühle herausgeschafft, hätten die ersten Sippen nicht überlebt. Girard stellt dazu eine einfache Überlegung an: Wenn in einem Stamm, in dem alle Männer für die Jagd mit Waffen ausgerüstet sind, diese nicht für die Jagd eingesetzt, sondern gegeneinander erhoben würden, wäre der Stamm in seiner Existenz gefährdet. Das Gleiche gilt aber auch für eine Abteilung in einem Unternehmen, einer Institution – wenn jeder gegen jeden „Rechnungen begleichen“ würde, wäre das Ganze gefährdet. Die Lösung besteht darin, dass man einen sucht, auf den sich alle unguten Gefühle richten können. Wenn dieser gefunden und ausgestoßen oder vernichtet wurde, hat er die schlechten Gefühle weggetragen. Die Luft ist wieder klarer, man kann atmen. Zudem sind alle überzeugt, dass der Gemobbte tatsächlich der Schuldige gewesen sein muss, denn die Gefühle haben sich zum Positiven verändert. Wenn die Gefühle besser sind, wird das als nachträglicher Beweis erlebt, dass die Ausstoßung rechtmäßig erfolgte.
Zum Mobbingopfer wird meist derjenige, der sich am wenigsten wehren konnte. Oder es wird, Trotzki ist dafür ein klassisches Beispiel, derjenige Opfer, der der Rivale des Stärkeren war. Bei Trotzki kann man den Mechanismus, der meist verdeckt ist, besonders deutlich beobachten: Es genügte nicht, dass er in Mexiko im Exil lebt, er musste nicht nur entmachtet, sondern physisch umgebracht werden. Manche Morde sind so zu verstehen, vor allem in Gruppen, die von sich sagen “Wir haben ein Gesetz und nach diesem Gesetz muss er sterben.“ Ein solches Delikt ist z.B., sich an der „Braut“ des anderen zu vergreifen. In den meisten Bevölkerungskreisen wird das Mobbingopfer nicht physisch umgebracht, es genügt die Absetzung, die allerdings eine Art „soziale Enthauptung“ darstellt.
Das, was wir heute als Mobbing bezeichnen, liegt bei Girard am Beginn der menschlichen Kultur und damit auch vor einer Verhaltensordnung. Er versucht mit seinen Analysen möglichst nahe an den Übergang von tierischem Verhalten zur menschlichen Kultur zu kommen. Er sieht die ersten menschlichen Sippen dem nachahmenden Begehren schutzlos ausgeliefert. Die Zeit ohne kulturelle Regeln war äußerst bedrohlich für den Fortbestand des Menschen, denn nur diejenigen Gruppen haben überlebt, die sich nicht gegenseitig umgebracht haben. Das ist gelungen, indem sie die angestauten Unzufriedenheiten, die sich zu Aggressionen verdichten, auf einen einzelnen Sündenbock leiten konnten, diesen ausstießen, um dann Verbote gegen das Begehren aufzustellen. Girard geht davon aus, dass es eine reale Tötung am Anfang der menschlichen Kultur gibt, die sich in den Opferriten niedergeschlagen hat. Wie sind die Schritte in dem psychischen Prozess zu sehen?

Vom Mobbingopfer zum Kulthelden

Der Effekt des Mobbing, der realen Tötung ist erst einmal eine Entlastung von den negativen Gefühlen. Jetzt ist die Gruppe wieder handlungsfähig. Sie hat die Gefährlichkeit der durch Stimmungen und Gefühle bewirkten Gewaltbereitschaft erlebt und konnte sie gerade noch einmal loswerden. Es werden jetzt Regeln eingeführt, die die Objekte der Nachahmung mit einem Verbot umgeben. So können Männer nicht mehr mit Gewaltandrohung um eine Frau rivalisieren. Eigentumsrechte werden eingeführt. Auch eine Instanz, die für Streitfälle eine Autorität hat, kann etabliert werden. Dass es ein Gewaltmonopol der Stammesführung gibt, lässt sich noch nicht verwirklichen. Nicht nur im Western bleibt der Anhänger des Rechtsstaates Waffenbesitzer, es gilt noch heute für jeden US-Bürger. Blicken wir auf Europa, hat es z.B. in Deutschland das Duell bis ins 20. Jahrhundert gegeben. In Frankreich hatte bereits Richelieu mit drakonischen Maßnahmen das Duellverbot durchgesetzt. Er wollte die Adeligen lieber gegen den Feind ins Gefecht schicken. Rockerbanden setzen das Verbot immer wieder außer Kraft.

Das Begehren einhegen

Es geht also um Eingrenzung des Begehrens, das haben zu wollen, was der andere hat. Aber der Boden für das Recht ist nicht sehr tragfähig, auch heute nicht. Nur zwei Hinweise: Hexenverfolgungen hatten auch darin ihren Antrieb, dass deren Besitz an den Richter bzw. Ankläger fiel. Hexenprozesse sind im Mittelalter nicht so verbreitet gewesen wie in der beginnenden Neuzeit – die Gefühle waren erregt, es war eine Umbruchszeit, in der viele Feindschaften wachsen konnten. Zumindest reichte die aggressive Energie für 30 Jahre Religionskrieg. Dass die deutsche Bevölkerung die Judenvernichtung zu einem Teil wenigstens mitgetragen hat, lag auch an den Erfahrungen der Depressionszeit und dass den Juden großer Reichtum unterstellt wurde. Daraus wurden Verbrechen und diese Brocken des Bösen bleiben im Untergrund der Geschichte wirksam.
Das Sich-Vergleichen mit anderen und der angestaute Unmut  lähmen eine Gruppe und sollen daher bereinigt werden. Es gibt noch einen tiefere liegende Quelle des Bösen, das wie eine nicht heilende Wunde kaum zu behandeln ist: Das Glück des anderen. Dazu folgt eine Beitrag

Literatur

Die hier vorgeschlagenen Werke gehen nicht den Weg der empirischen Wissenschaft, sondern interpretieren Mythen. Erstaunlicherweise sind Erzählungen vom Bösen in ähnlicher Dramaturgie über die ganze Welt verbreitet. Sie bleiben nicht bei den Handlungen stehen, sondern thematisieren die Emotionen. Damit kommen sie den Wurzelgründen des Bösen sehr viel näher:

René Girard

  • Figuren des Begehrens.Das Selbst und der Andere in der fiktionalen Realität. LIT, Münster 199
  • Das Heilige und die Gewalt. Fischer, Frankfurt a. M. 1994, zuletzt Düsseldorf, Patmos 2006 (La
     Violence et le sacré, 1972,)
  • „Das Ende der Gewalt. Analyse des Menschheitsverhängnisses. Erkundungen zu Mimesis und Gewalt mit Jean-Michel Oughourlian und Guy Lefort.“ Herder, Freiburg 2009;
  • „Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz. Eine kritische Apologie des Christentums.“ Verlag der Weltreligionen,, Girard zeigt auf, dass die Evangelisten den Bericht über den Prozess Jesu nach dem Sündenbockmechanismus strukturiert haben.

 Eugen Drewermann
Strukturen des Bösen"  -  3 Bände, 1977-78, Schöningh Verlag, 1988, 1747 Seiten
Im 1. Band stellt Drewermann die biblischen Texte vom Sündenfall, von Kain und Abel, vom Turmbau von Babel u.a. vor, der zweite Band ist ethnologisch orientiert und beschreibt vergleichbare Mythen anderer Kulturen, der 3. Band findet in der Philosophie von Paul Sartre vergleichbare Strukturbeschreibungen.
Drewermann beschreibt das Böse, ausgehend von der Kain-Abel-Geschichte, individualpsychologisch, die Gruppe und damit der rituelle Aspekt kommen, anders als bei Girard, nicht in den Blick. Damit kommt auch die Dimension des Rechts für die Eingrenzung des Bösen nicht zum Tragen. Die Überwindung des Bösen ist dann logisch Aufgabe von Therapeuten.

Jordan B. Peterson
„Warum denken wir, was wir denken, Wie unsere Überzeugungen und Mythen entstehen.“ MVG-Verlag, München 2019, „Maps of Meaning“, Routledge 1999
Peterson verbindet die Vorstellungswelten der Träume mit den mythischen Darstellungen menschlichen Verhaltens und den Heldengeschichten. In einem eigenen Abschnitt über das Böse sieht er die Erstarrung, das sich Sperren gegenüber neuen Herausforderungen bzw. die Durchsetzung einer Ideologie als Wurzelgrund des Bösen. Der Kanadier bezieht sich vor allem auf die Arbeiten von Northrop Frye Mircea und Eliade

 

Das Böse verlangt Eindämmung
Das Böse wird druch den Krimi ausgetrieben
Das Glück des anderen verführt mich zum Mord


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