Corona – mich aushalten lernen

Auch wenn um mich herum der Eindruck entsteht, als wäre Corona vorbei, habe ich für mich nach vielen Überlegungen entschieden, dass ich mein Eremitendasein als Hochgefährdete zu meinem, aber auch zum Schutz der anderen, noch nicht aufgebe. Ich lerne durch Corona.

Selbstbestimmt entscheiden

Meine Entscheidung mich von allem, selbst vom Einkaufen fernzuhalten, habe ich mir nicht leichtgemacht. Auch wenn einige aus meinem Umfeld meine Entscheidung als übertrieben erleben, bin ich mir sicher, dass sie für mich richtig ist. Das heißt aber nicht, dass sie nicht auch weh tut, denn für mich als Beziehungsmensch trifft mich das schon hart. Auf die persönlichen Kontakte zu verzichten ist nicht einfach. Auch ist das Leben ohne Einladungen oder Unternehmungen, ohne Reisen sehr viel ärmer. Aber der Verzicht darauf fühlt sich erst dann als eine Einengung meines Lebens an, wenn ich meine Entscheidung nicht selbstbestimmt treffe, sondern wenn sie mir verordnet wird. Ich habe aber selbst entschieden damit ich frei bin und mich in Freiheit zu meiner Entscheidung verhalten kann. Durch die Entwicklung fühle ich mich bestätigt. Denn noch schwelen überall auf der Welt, auch bei uns, Corona-Feuer. Es schwelt im Keller weiter, aber wir bauen bereits das Dachgeschoss aus. Der Schwelbrand ist nicht zu unterschätzen.

Chance im Maßhalten

Deshalb versuche ich in diesem Einsiedler-Jahr, wovon ich inzwischen ausgehe, dass es noch dauern wird, auch eine Chance zu sehen, dass etwas Neues in mir wachsen wird, das mich auch aus mir heraus zufrieden stimmt. In der unfreiwilligen, aber dennoch selbstbestimmten Entscheidung zum Maßhalten liegen nämlich auch neue Möglichkeiten. Die Wippe ist ein gutes Bild dafür, wenn an der einen Seite Gewicht weggenommen wird, entsteht ein Ungleichgewicht. Wenn ich für einige Monate auf meine Außenorientierung, meinen Konsum, meine Lust an Begegnungen, shoppen und Einladungen verzichte, brauche ich zum Ausgleich neue Gewichte. Wie können sie aussehen? In den letzten 4 Monaten konnte ich bereits die Erfahrung machen, dass mir die Einschränkungen und die damit verbundene Mäßigung den Blick für eine andere Art zu leben geöffnet hat. 

Weniger ist mehr

Es muss nicht immer etwas „los“ sein. Den Tag mit Meditation und Yoga zu beginnen stimmt mich auf eine spirituelle Ebene ein. Ich kann in eine andere Seins-Ebene eintreten, in der ich das Maßhalten nicht als Entzug oder Verlust erlebe, sondern als Zugang zu einem einfacheren Leben. Einfach leben ist kein armes oder unlebendiges Leben, sondern ein Leben ohne die unnötigen Schnörkel des Konsums, der Ablenkung, der Zerstreuung, die bisher immer noch zum normalen Alltag gehörten. Weniger ist mehr, kann ich jetzt aus der Erfahrung heraus sagen. Die Stille erleben und aushalten, Ruhe nicht durch Betriebsamkeit oder in der Stadt bummeln verscheuchen, Langeweile nicht durch unnötigen Aktivismus verhindern, denn in ihr steckt viel Kreativität. Ich brauche auch kein neues T-Shirt und auch keine neuen Hosen, denn ich habe genug. Dieser Blick auf mein Leben verändert meine Sicht auf das, was wirklich existentiell zählt. Es zeigen sich alte Werte in neuem Gewand.

Neue Möglichkeiten

Langsam gewöhne ich mich an das langsame, ruhige, entspannte, ein wenig asketische Dasein. Wobei es mir an nichts fehlt. Meine beruflichen Beratungen oder Konferenzen finden digital statt. Das vereinfacht den Aufwand enorm, spart Zeit und ist genauso effektiv. Auch die Kontakte zu meinen Freunden versuche ich über das Telefon und Skype zu pflegen. Es fühlt sich nicht so dicht an, als wenn wir uns treffen, aber es geht. Auch mein Garten unterstützt mich in meiner Suche nach Ausgeglichenheit, denn in ihm kann ich die Nähe zur Natur erfahren. Ich erlebe, wie die Pflanzen wachsen, wie mein kleiner Teich immer lebendiger wird, weil sich die unterschiedlichen Amphibien dort inzwischen einfinden. Auch die Tatsache, dass ich mich aus meinem Garten ernähren kann, gibt mir viel Kraft wie auch ein Gefühl von Unabhängigkeit in dieser Krise.

Was ist der Gewinn

Ich denke darüber nach, dass die Auseinandersetzung mit dem Alleinsein, dem Maßhalten nicht nur für die paar Monate von Corona gilt, sondern auch das Alter von mir irgendwann erwartet, dass ich mich in der Stille und Ruhe der letzten Jahre meines Lebens zufrieden aushalten kann, ohne „grantig“ zu werden. Welche Ressourcen habe ich mir geschaffen, wenn das Alter noch mehr seine Spuren in mein Leben eingräbt? Wie viel Demut oder Bescheidenheit habe ich bis jetzt entwickelt, damit ich nicht unangemessene Forderungen und Ansprüche an mich, meine Kinder und andere Menschen stelle? Jetzt mit Corona scheint die Zeit gekommen zu sein, das einzuüben.
Stille aushalten ist Übung und heißt auch, warten können auf das, was sich mir eröffnet. Unter dem Baum sitzen und auf die leisen Töne des Windes hören, der durch die Bäume säuselt, den Gesang der Vögel aufnehmen, die sich gegenseitig übertreffen, den Fischen zuschauen, wenn sie beim Füttern wild durcheinander schwimmen. Am Fluss sitzen und dem fließenden Wasser zusehen, mich in ein Buch vertiefen, um meinen Horizont zu erweitern, die Gedanken wahrnehmen, die sich mir zeigen wollen. Die Erfahrungen meines Lebens ausgraben und anschauen, um den Dank für all das Gute nicht zu vergessen.
In der Wartezeit eröffnen sich manchmal ganz neue Blicke. Jetzt in der Coronazeit kann ich in Ruhe die Fähigkeit des Wartens und des Schweigens einüben. Nichts treibt mich von außen an. In einem Hymnus von Reinhard Lettmann – aus „Zeit der Gnade“ heißt es:

keiner ist Same außer er ist selber Sämann, keine Ernte ohne die Zeit des Schweigens.

Wenn ich für meine Einübung Anregungen suche, kann ich mir die Lebensgeschichten von Einsiedlern und Eremiten anschauen. Sie haben in der Stille gelebt, meditiert, gebetet, gewartet und ein einfaches Leben geführt. Aber sie waren nicht untätig, ihr Leben war lebendig und im Alleinsein nicht einsam, denn sie spürten einen besonderen Zugang zur spirituellen Tiefe des Lebens. Eine Dimension, die in der Hektik meines Lebens oft zu kurz gekommen ist.

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Kategorie: Entdecken

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