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Zur Situation der Freiheit

Meine Freiheit begleitet mich jeden Tag. Selbst wenn feststeht, was ich heute tun werde, ich muss noch entscheiden, wie ich den Tag angehe und wie ich auf das reagiere, was mir entgegenkommt. Ich bestimme so auch über meine Stimmung. Das alles geschieht in einem Umfeld, in das meine Freiheit eingebettet ist. Wie bestimmt sich Freiheit in der jetzigen Kultur?

Die Corona-Quarantäne hat uns auf Abstand zu Vielem gebracht. Weniger eingebunden in die vielen Stränge und Fäden, in die unser Leben eingebunden ist, konnten wir uns selbst näherkommen. Wie lebe ich mein Leben, in dem mich meine Freiheit auch durch die Corona-Krise begleitet hat: Ich lebe in vielen Möglichkeiten, von den ich zeitweise abgeschnitten war. Mögen früher die Lebensläufe mehr vorstrukturiert gewesen sein, dann ist das heute etwas anders. Die Strömung, die die Kultur gegenwärtig bestimmt, ist auf Veränderung hin gepolt. Warum sich alles ändern muss, entspringt wohl nicht einer tiefen Unzufriedenheit mit dem Bestehenden. Eine solche Unzufriedenheit war wohl die Tiefenströmung, die sich in der Französischen Revolution entlud und einen Epochenwandel herbeiführte, der auch heute noch unser Leben bestimmt. Sehr anders sind heute die Bedingungen. Veränderung muss nicht revolutionär durch die politische Beteiligung Vieler erkämpft werden. Sie geschieht, in mir, indem ich das Smartphone nutze, mit wenigstens einem Fuß in den Social Media eingetreten bin, mein Gehirn mit dem Internet verbinde und jetzt auch an Besprechungen von meinem Schreibtisch mit Videoschaltung teilnehme. Ich kann einfach mitschwimmen. Allerdings muss ich mitmachen. Wenn alle Welt sich im Digitalen begegnet und eine Pandemie mich wie in eine Einsiedelei zwingt, aus der ich trotzdem mich mit aller Welt verbinden kann, dann zieht mich diese digitale Kommunikation in diese Welt. Wie konturiert diese Kultur die meine Freiheit:

Es ist eine Freiheit der immer mehr Möglichkeiten

Freiheit hat eine Geschichte. Sie hat verschiedene Stadien durchlaufen. Sie muss heute nicht wie am Ende des Ancien Regime erkämpft werden, als die Adelsherrschaft von dem neuen Stand der Bürger abgeschafft wurde. Nach den Wirren der napoleonischen Kriege hielt das Zeitalter der Restauration nicht lange. Über den Kompetenzgewinn der Parlamente, verbunden mit der Industrialisierung konnte das Unternehmertum seine Interessen durchsetzen es versorgte den aufkommenden Nationalismus mit den Waffen für zwei Weltkriege. In den kommunistischen Ländern war die Industrialisierung ebenfalls der Treibriemen der Veränderung, bis auch diese Kulturen sich in der Stagnation festgefahren hatten. Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs und dem Eintritt Chinas in die von international agierenden Unternehmen gesteuerten Warenströme erweitert sich nicht nur das Warenangebot, die Anforderungen an jeden, der in der globalisierter Produktions- und Handelswelt seinen Platz sucht, ist als Arbeitskraft einem international organisierten Arbeitsmarkt ausgeliefert. Dabei wandern weniger die Arbeitskräfte, die Ende des 19. Jahrhunderts aus dem Osten ins Ruhrgebiet strömten oder in den USA ihr Glück suchten, sondern die Produktionsstätten werden dahin verlegt, wo Arbeit billiger und mit weniger Sozialleistungen verbunden ist. Die Digitalisierung hat die Globalisierung mit ermöglicht und in Zeiten der Pandemie die Kommunikation aufrechterhalten, so dass die Handelsschiffe und Lastwagen weiter Wäre aufnehmen und ans Ziel bringen. Diese digitalisierte und globalisierte Welt hat eine immer weiter wachsende Zahl von Modellen für fast alle relevanten Lebensbereiche hervorgebracht, so die Zahl der Berufe, die der Urlaubsziele, die inzwischen rund um den Globus angesteuert werden können, der Entwürfe für eine Partnerschaft und der Weltanschauungen. Diese Möglichkeiten bieten sich meiner Freiheit an, sie kommen auf mich zu, sie müssen nicht erkämpft werden. Aber auch in diesen Zeiten braucht Freiheit Kraft:

Die Vielfalt saugt die Kraft auf

Vor jedem breitet sich eine breite Palette von Möglichkeiten aus. Die jüngeren Jahrgänge müssen sich für eine Ausbildung bzw. ein Studium entscheiden, sie haben Partnerschaft bereits ausprobiert und stehen vor der Entscheidung, auf welches Modell von Partnerschaft sie sich festlegen wollen. Für die Älteren gibt es auch viele Modelle, ihre nachberufliche Zeit zu strukturieren. Sie müssen sich für eine Wohnsituation entscheiden und werden von Vorschlägen für Schiffs-, Flug- und Kulturreisen überschüttet. Die Vielzahl der Möglichkeiten und Angebote zwingen allen Bewohnern der Postmoderne immer mehr Entscheidungen auf. Das erklärt, dass diejenigen, die beruflich erfolgreich sind und im Alter auf eine ausreichende finanzielle Absicherung setzen können, die Quarantäne nicht als Desaster, sondern als Entlastung von dem ständigen Entscheidungsdruck erleben konnten. 

Warum Entscheiden anstrengend geworden ist

Wenn ich mich für eine Urlaubsreise, eine Ausbildung, eine Partnerschaft entscheide, muss ich sehr viele andere Ziele ausschließen. So kann ich aus 367 Ausbildungsberufen und an die 2.000 Monsterprogrammen auswählen. Ich muss 366 andere Ausbildungsgänge und 1.999 Studiengänge abwählen. Oft fehlt mir die Kraft dazu. Dann lasse ich mich, ob bei der Auswahl der Urlaubsziele, bei der Entscheidung für eine Ausbildung oder einen Studiengang von dem treiben, was mir mein Umfeld nahelegt. Das gilt auch für die Partnerschaft. Das mag etwas zynisch klingen, aber die auf Probe eingegangene Beziehung kommt dann beim Standesamt und immer noch vor dem Traualtar an. Die Schule, die Ausbildung oder das Studium schleusen mich durch die Wochen und Monate. Im Beruf kommt auch immer etwas auf mich zu. Ich brauche eigentlich nur mitzumachen. Für die Älteren gibt es immer noch das lineare Fernsehen. 

Der ständige Wandel wird eintönig

Der ständige Wandel hat etwas von Stagnation an sich. Zumindest bewirkt er das Gefühl, den Dingen hinterher laufen zu müssen. Auch im Alter werden die nicht wenigen Entscheidungen anstehen, nicht als belebend empfunden. Das prickelnde Gefühl, aus der eigenen Gestaltungskraft Lebensenergie zu schöpfen, scheint von der Last der Unüberschaubarkeit erstickt zu werden. Im Blick auf die Generationen könnte man sich die jeweilige Grundstimmung so erklären:

  • Die Generation X, also die Vierzig- und Fünfzigjährigen dürfen sich nicht abhängen lassen. 
  • Die Generation Y, die vor 2.000 Geborenen, spüren die Last, mit der Vielzahl der Möglichkeiten fertig zu werden und brauchen viel Energie, sich auf ein Modell, ob Beruf oder Partnerschaft, festzulegen.
  • Die Generation Z lässt sich einfach tragen, sie "kann digital". Sie sieht nicht mehr die Notwendigkeit, sich so anzustrengen wie die eigenen Eltern und fühlt die ökologische Krise noch nicht hautnah.
  • Die Achtundsechziger waren die letzten, die gegen eine Stagnation kraftvoll rebelliert haben. Sie wollten eine andere Gesellschaft als die, die ihre Eltern aus den Trümmern aufgebaut hatten. Für diese waren diejenigen bestimmend, die bereits 12 Jahre vor dem Nationalsozialismus für Parlamentarismus und Gewerkschaften eingetreten waren und die an diese Epoche wieder anknüpft hatten. Die Achtundsechziger mussten nicht mehr etwas aufbauen, deshalb konnten sie die Gesellschaften umbauen. Ihre Reformen bestimmen immer noch das Zusammenleben, jedoch ist ihr Weltbild deshalb nicht mehr produktiv, weil sie nicht mehr die Energien einbringen, um die ökologische Krise abzuwenden.

Corona hat keine revolutionäre Atmosphäre geschaffen, sondern eher Nachdenken und die Erfahrung, dass man mit sehr viel weniger auskommt. Könnte die Freiheit aus dieser Dynamik Kraft zur Veränderung gewinnen, dass nicht alle auf die Greta-Generation warten, dass diese endlich das Blatt wenden.

s. dazu Corona- Training für einen ökologischen Lebensstil


Kategorie: Analysiert

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