Der Neuanfang sollte uns nicht genommen werden, weil Unerledigtes und Misslungenes aus der Vergangenheit uns festhält. Als erstes hilft eine realistische Einschätzung
Aus dem Vielen können wir nur Weniges verwirklichen
Die Vielfalt in unserem Leben betrifft nicht nur das reichhaltige Angebot im Supermarkt, die vielen Freizeitmöglichkeiten, die Reiseangebote, die kaum noch zu überschauenden Berufsmöglichkeiten, die Partnerwahl, sondern auch unsere eigene Wahl, wie wir leben wollen. Was wir aus uns machen wollen. „Alles ist möglich“. Aber nicht für mich, denn aus allem kann ich nur Weniges verwirklichen.
Wir könnten doch eigentlich sagen „hurra“ wir leben in einem Land, das uns alle Freiheiten lässt, alles tun zu können, was wir wollen, wenn wir die Gesetze achten. Freiheit pur, wenn wir so viel Auswahl haben. Aber genau das Gegenteil entsteht. Je größer die Auswahl, desto schwieriger wird es sich für etwas zu entscheiden. Jeden Tag aufs Neue müssen wir abwägen, aber wie wägen wir bei dem bunten Strauß von Möglichkeiten ab? Entscheiden wir uns nämlich für das Eine, dann entscheiden wir uns ja automatisch auch gegen all das andere. Das verunsichert. Da kommt dann die Frage hoch, wäre das andere vielleicht doch besser gewesen? Manchmal entscheiden wir dann lieber überhaupt nicht. Auch das hängt in unseren Kleidern.
Der Beruf und unser Lebensglück
Besonders schwierig und vor allem mit nachhaltigen Konsequenzen wird es bei der Berufswahl, wie bei der Partnerwahl. Hätte ich nicht besser etwas Anderes studiert oder einen anderen Beruf gewählt? Für junge Menschen ist es inzwischen ziemlich schwierig geworden, sich festzulegen, denn da kommt die Angst hoch, ob sie richtig gewählt haben. 30% Prozent AbbrecherInnen an den Unis, das spricht für sich selbst. Ähnliches passiert ja auch, wenn ich mich auf einen Partner festlege. Die Möglichkeiten viele auszuprobieren, sind ja da. Das macht nicht unbedingt freier, sondern führt eher zu überhöhten Ansprüchen, denen kaum noch jemand gerecht werden kann. Diese Vielfalt und die damit verbundenen Auseinandersetzungen führen oft zu zögerlichem Verhalten, so dass viele Entscheidungen gar nicht oder erst sehr viel später getroffen werden.
Im Alter kommt Vieles zusammen, das ich aufräumen muss.
Habe ich mein Leben richtig gelebt?
Zufriedenheit bis ins hohe Alter wird mir nicht einfach geschenkt. Ich muss etwas dafür tun. Geht eine Partnerschaft schief, oder kommen wir beruflich nicht so weiter wie wir das gerne hätten, kommen Zweifel hoch, sich für das Richtige entschieden zu haben. Wäre das Leben anders verlaufen, wenn...? Ja, wenn was? Das ist die große Frage?
Wenn diese Frage im Alter immer noch virulent ist, prägt sie die Ausstrahlung der Person. Ich beobachte bei manchen, dass sie mit großem Bedauern, auf ihr Leben zurückblicken. Sie leiden noch im Alter darunter, dass sie das, was sie einst wollten, nicht gemacht haben. Es scheint noch immer weh zu tun. Manchmal verfallen sie in Selbstmitleid, formulieren Vorwürfe an den Partner, an die Eltern, oder die Gesellschaft. Sie beschweren sich darüber, dass es nicht möglich war ihre Vorstellungen vom Leben zu verwirklichen und lassen dann auch ihre schlechte Stimmung an anderen aus.
Ich kann verstehen, dass jemand, der ganz in den Zwängen aufgegangen ist, sich immer anderen angepasst hat, seiner Sehnsucht und seinem Lebensauftrag nicht folgen konnte, schmerzvoll zurückblickt. Da gab es vielleicht damals Zwänge, die den Einzelnen in eine Richtung drängten, in die er oder sie möglicherweise gar nicht wollte. Sie ist vielleicht schon früh schwanger geworden und konnte das Studium nicht beenden und auch nach der Geburt nicht wieder aufnehmen, weil es an Geld fehlte und Kita’s noch nicht so zur Verfügung standen wie heute. Sie musste ihren Wunsch zu studieren „an den Nagel hängen“. Er musste vielleicht in den väterlichen Handwerksbetrieb einsteigen, obwohl er lieber Künstler geworden wäre. Da waren die Zwänge größer als das, wofür das eigene Herz schlägt. Bleibt die Sehnsucht bis ins hohe Alter bestehen, weil es nicht gelungen ist, das Eigene irgendwie zu leben, kann sich ein Bedauern einschleichen. Bedauern darüber, den eigenen Lebensauftrag verpasst zu haben.
Heilung
Wird mir im Rückblick auf mein Leben deutlich, dass ich Vieles von dem, was in mir steckt, nicht leben konnte, kommt Trauer hoch. Da wo Trauer ist, sind Schmerzen, die nach Heilung suchen. Damit ich mich von ihnen befreien kann, muss ich sie spüren und anschauen. Ich muss mich damit konfrontieren und sie nicht wieder zur Seite drängen. Ich halte mich sonst immer in dem Kreislauf des Bedauerns fest, ohne dass sich die Trauer langsam auflösen kann.
Es wäre doch so viel schöner gewesen, ich wäre so viel zufriedener, mein Leben wäre viel besser verlaufen wenn .....
Ich bleibe blind für die guten Seiten in mir, wenn ich nur meinen Blick auf das lenke, was nicht gewesen ist. Irgendwie scheine ich aber auch etwas davon zu haben, wenn ich so hartnäckig daran festhalte. Deshalb hilft es , diesem Nutzen einmal nachzugehen. Will ich dieses Grundgefühl ändern, muss ich es ändern wollen und kann mich fragen:
- Was habe ich eigentlich davon, dass ich immer noch etwas nachtrauere, was sich nicht mehr ändern lässt?
- Will ich weiter jammernd durch die Welt gehen und mir und anderen die Laune verderben?
- Kann ich in den Frieden mit mir kommen, mich mit mir und meinem Leben versöhnen, damit ich wenigstens jetzt das tun kann, was mich zufrieden stimmt?
Denn ich kann jeden Tag etwas an meinem Leben ändern. Ich bin es nämlich selbst, die mein Lebensschiff steuert. Ich kann meine Trauer über Nichtgelebtes beerdigen. Ich kann mir einen Brief schreiben, mir von meiner Trauer erzählen und sie verabschieden. Anschließend kann ich diesen Brief verbrennen. Ich kann die Medaille auch umdrehen und auf das blicken, was mir im Leben gelungen ist. Da öffnet sich ein neuer hellerer Blick, denn ich kann auf viel Gutes schauen, das ich vielleicht sogar eine Weile vergessen habe, weil ich nicht loslassen konnte oder wollte. Ich kann mir auch zu dem Gelungenen in meinem Leben einen Brief schreiben, an mich adressieren und zuschicken. Dann kommt er Tage später an und erinnert mich. Ich kann ihn dann irgendwo sichtbar aufhängen, damit ich jeden Tag einen Blick darauf werfe. Irgendwann kann ich dann sagen: „Das ist mein Leben, so ist es gelaufen und nicht anders, es gehört alles zu mir,“ Da gibt es nicht nur Misserfolge, sondern auch Gelungenes, das mich ausmacht. Mit diesem realistischen Blick auf das eigene Leben kann ich auch wieder netter mit mir selbst und den anderen umgehen. Ich verändere meine Ausstrahlung. Gelingt mir die Verabschiedung des „Bedauerns“, bin ich frei auch im Alter für neue Ziele und kann die Kompassnadel darauf einstellen.
Das Jahr in den Blick nehmen
Wenn ich die Adventszeiten in meinem Leben nutze, um jedes Jahr die zurückliegenden Monate aufzuräumen, sammelt sich nicht so Vieles an und ich kann früh genug die Koordinaten meines Schiffes neu einstellen. Der Advent mit seinen kurzen Tagen, den frühen Abenden, der Hoffnung auf Neues durch das Kind in der Krippe bietet sich an, sich mit dem eigenen Leben intensiver zu beschäftigen.Da können die Fragen helfen:
- Was ist in diesem Jahr alles gewesen?
- Was war schwierig?
- Was habe ich als unterstützend erlebt?
- Was ist mir misslungen?
- Was ist mir gelungen.
- Was muss ich noch bearbeiten?
- Mit wem muss ich noch etwas klären?
- Bei wem muss ich mich bedanken?♠
Mit dem Aufräumen des Jahres schaffe ich mir neue Freiräume in meiner Seele. Ich entrümple alles was mich lähmt. Das hat auch den Vorteil, dass sich nicht so viel Seelenmüll bis ins Alter sammelt.
Das gilt auch für die jungen Menschen. Je früher ich damit anfange, mir das zu einem Adventsritual zu machen, desto selbstverständlicher wird es, dass ich am Ende des Jahres Bilanz ziehe. Das befreit und macht Platz für Neues im neuen Jahr.
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