Die Taliban sind nicht Ursache, sondern Ergebnis
Das Land wurde von einer moskauorientierten Gruppe regiert, die vom Volk als „gottlos“ abgelehnt und mit Aufständen bekämpft wurde. Ende Dezember 1979 besetzte die Sowjetunion das Land. Weder die USA noch Indien waren in der Lage, diese Landnahme zu verhindern. Der Westen unterstützte die Aufständischen und so begann der Aufstieg der Taliban. Ihr Dank war die Aufnahme von Terroristen, die am 11. September 2011 der Welt zeigten, dass sie fast das Pentagon zerstören konnten. Das führte zum Einmarsch der USA. Verteidigten die westlichen Staaten tatsächlich am Hindukusch ihre Demokratie? Haben sich die Islamwissenschaftler und Politologen ernsthaft gefragt, ob das so geht. Das liegt jenseits der strategischen Intelligenz eines Verteidigungsministeriums. Deshalb hätten die Politikberater und Religionswissenschaftler eine intelligentere Strategie entwickeln müssen. Afghanistan ist nur auf den ersten Blick eine militärische Niederlage. Viel nachhaltiger ist die kulturell-politische. Sie wird für den ersten Aggressor gefährlich:
Russland ist am meisten durch Islamisten gefährdet
Beide, Islam wie Christentum, greifen zu den Waffen. Afghanistan reiht sich in die jahrhundertelange Liste der Schlachtfelder ein. Die Idee war meist, Raum zu erobern, um die eigene Religion zu etablieren. Lange verstand das der Islam besser. Im 19. Jahrhundert konnte sich dann Europa die halbe islamische Welt unterwerfen. Bereits das Zarenreich verleibte sich muslimische Gebiete in Zentralasien ein. In diese Regionen ist der Islam als politische Idee zurückgekehrt, dort, nicht in den arabischen Ländern, hat der IS die meisten Kämpfer rekrutiert. Diese Kräfte wollen nicht nur im Kaukasus Russland zurückdrängen, sondern die Macht in Russland selbst übernehmen. Sie erhalten Auftrieb, wenn die Taliban zeigen, wie es geht. Russland muss damit rechnen, dass die in Syrien kämpfenden Jihadisten ihre Kriegskunst in die russische Föderation tragen. Das erklärt, warum Putin in Syrien Assad unterstützt. Würde dieser fallen, wäre das der Modellversuch für Russland. Inzwischen gibt es in der auf die Föderation geschrumpfte Sowjetunion Salafisten in der Teilrepublik Tatarstan, östlich von Moskau, bei den jungen Muslimen eine Hinwendung zum kämpferischen Islam. Zudem halten sich mehr als 2 Millionen Muslime aus den zentralasiatischen, ehemaligen Sowjetrepubliken in der Russischen Föderation auf. Der Islam hat in den post-sowjetischen muslimischen Ländern an der Seidenstraße große Bedeutung gewonnen.
Indien und China
Für Indien wird der Erfolg der Taliban ähnlich wie für Russland zum Problem, denn radikale Gruppen der Muslime auf dem Subkontinent werden sich ermutigt fühlen. Da die Hindus seit einigen Jahren aggressiver gegen die muslimische Bevölkerung vorgehen, könnten sich die Muslime in Pakistan zur Hilfe für die Glaubensbrüder aufgerufen fühlen.
Der Islam beerbt den Kommunismus als Staatsidee
Als die gesellschaftlich-politische Integration des Sowjetsystems, nicht zuletzt durch die militärische Verwicklung in Afghanistan, sich auflöste, zerfiel auch die staatstragende Idee, der es in Zentralasien gelungen war, stabile Staatsgebiete zu schaffen. Nach dem Zerfall dieser Staatsidee konnte der Islam die gleiche Funktion wie in seiner Gründungsphase erfüllen, nämlich die Stammesrivalitäten durch eine gemeinsame Weltanschauung zu überwinden. Der Koran als Buch hatte im 7.und 8. Jahrhundert deshalb eine so hohe Bedeutung, weil er die Herrschaft der Kalifen legitimierte. Nicht anders legitimieren die Taliban ihre Herrschaft.
Entschiedener Dialog mit dem Islam
In einer globalisierten Welt ist die Machtergreifung der Taliban kein regionaler Konflikt mehr. Eigentlich müsste jeder von uns den Muslim von nebenan fragen, was der Islam mit der Welt vorhat. Zwar gibt es nach einer militärischen Niederlage für einen Dialog kaum Voraussetzungen. Die Gewinner haben genug damit zu tun, das Land unter Kontrolle zu bringen. Trotzdem ist ein Dialog mit dem Islam auf vielen Ebenen und auch mit den Taliban unabdingbar.
Wenn die erste Macht der Christenheit zum wiederholten Male von Guerillas aus dem Land geworfen wird, dann müssen andere ihren Platz im globalen Gespräch einnehmen. Was könnten Christen aus Europa, aus Indien, von der Orthodoxen Kirche Russlands vorbringen? Sie können den Taliban nicht den Einsatz von Waffen zum Vorwurf machen. Denn die Muslime können darauf hinweisen, dass die Christen zuerst mit Waffen auf den Plan getreten sind. Deshalb sollte der Einsatz der Bundeswehr nicht nur militärisch reflektiert werden. Was galt es eigentlich, am Hindukusch zu verteidigen? Und welches Konzept hatten die Deutschen, wenn die Amerikaner schon keines mitbrachten!
Im Dialog sollte man die Muslime hier auch fragen, warum ihre Landsleute in Panik geraten und so viele das Land verlassen wollen. Dieses Thema wird für die Taliban bald zu einem massiven Problem. Sie sind mehrheitlich Paschtunen, die im Südosten Afghanistans und in noch größerer Zahl, 23 Millionen, in Pakistan leben. Die Tadschiken und andere Volksgruppen der sog. Nordallianz, die damals mit den Amerikanern die Taliban von der Macht vertrieben haben, sammeln sich wieder. Die militärische Überlegenheit der Taliban garantiert nicht das Staatswesen, sondern erst die Zustimmung der Bevölkerung. Damit ist die entscheidende Frage des Islam eröffnet:
Wie hältst Du es mit der Gewalt? Und mit Drogen?
Der Koran kennt in dieser Frage der Gewalt keine eindeutige Antwort, denn er nennt im Koran ausdrücklich biblische Personen, denen der Gläubige folgen soll. Insbesondere wird Jesus genannt: In Sure 3,84 ist zu lesen:
„Wir glauben an Allah und (an das,) was auf uns und was auf Ibrahim, Isma´il, Ishaq, Ya´qub und die Stämme (als Offenbarung) herabgesandt wurde und was Musa, ʿIsa und den Propheten von ihrem Herrn gegeben wurde. Wir machen keinen Unterschied bei jemandem von Ihnen, und wir sind Ihm ergeben.“
Mit Musa ist Moses, mit 'Isa“ Jesus gemeint.
Wenn der Prophet sich nicht festgelegt hat, dann ein anderer. Im Dialog können sich Christen nämlich auf Jesus beziehen, nicht nur als ihre Leitfigur, sondern als der, dem der Koran zuspricht, dass er im Namen Allahs spricht.
Die von den Taliban vertretene strikte Befolgung des Korans muss sich auch die Frage gefallen lassen, warum sich die Gruppe nicht zuletzt durch Drogenhandel finanzierte und viele Bauern damit den Lebensunterhalt sicherte.
Der Dialog sollte aber erst begonnen werden, wenn der Westen sich von seinen ergebnislosen Versuchen verabschiedet und intelligentere Strategien gegen religiösen Extremismus entwickelt. Europa bleibt ideenlos. Es hat noch nicht einmal eine Politik entwickelt, die den mehr als 30 Jahre dauernden Krieg zwischen dem schiitischen Persien und dem sunnitischen Saudi-Arabien aushungert. So lange beide Länder Öl exportieren können, finanziert der Westen den syrischen Konfessionskrieg weiter. Eine von Muslimen und Christen entwickelte Friedenscharta ist längst fällig. Der weitgehend auf der Bibel fußende Koran und die darin bestätigte Autorität Jesu bieten tragfähige Ansatzpunkte. Das ist sicher ein Zehnjahresthema, wenn man die Zeit in Betracht zieht, die Europa brauchte, um aus seinen Kriegen herauszufinden. Zudem kann sich die christlich-westliche Seite auf die Forschungsergebnisse ihrer Orientalisten stützen, die eine weniger kriegerische Anfangsphase des Islam rekonstruieren als sie im muslimischen Geschichtsbuch vermittelt wird.
Den Steinzeit-Islam hat es nicht gegeben
Die kriegerischen Eroberungen, z.B. Syriens noch im 7. Jahrhundert durch die Araber, hat es so nicht gegeben. Vielmehr hinterließen Byzanz und das persische Sassanidenreich nach 30 Jahren Krieg ein Machtvakuum, das arabische Stämme, die vorher auf beiden Seiten gekämpft hatten, einfach nur ausfüllten.
Auch war der frühe Islam keineswegs steinzeitlich, sondern etablierte sich in der byzantinischen und persischen Kultur. Die Kulturträger mussten sich nicht zum Islam bekehren. Nur wer Karriere machen und den erhöhten Steuersatz für Nicht-Muslime nicht zahlen wollte, trat zur neuen Religion über. Johannes von Damaskus, ein bedeutender christlicher Theologe des 8. Jahrhunderts, sprach noch von den Muslimen als einer christlichen Sekte. Diese hatten bereits 100 Jahre vor ihm die Herrschaft über Damaskus übernommen. Auch in den folgenden Jahrhunderten war das von den Kalifen regierte Gebiet dem Frankenreich kulturell überlegen. Sie bauten Bagdad zu einer kulturellen Metropole aus, die erst mit der Eroberung durch die Mongolen 1258 ihre Bedeutung verlor. Das ist Islam, an den die Taliban erinnert werden müssen.
Sie selbst leben und denken noch in der Phase, die der Staatsbildung des arabischen Großreichs vorausging. Diese wurde erst durch die Verschriftlichung des Korans, eine vom Kalifen organisierte und personell besetzte Verwaltung zu einem durch ein einheitliches Steuersystem finanzierten Staat. Das müssen die Taliban noch zeigen, ob sie aus Afghanistan einen funktionierenden Staat machen. Das geht nicht ohne die Frauen.
Die weibliche Sete des Islams
Die Taliban kommen nicht aus einer städtischen, sondern aus einer Stammeskultur. Diese verlangte Männlichkeit, die nicht nur in Heldengeschichten am Feuer abends vermittelt wird, sondern sich im Kampf beweisen muss. Wie für ähnliche Kulturen gibt es da für Frauen nur geringe Spielräume. Jedoch hat Afghanistan eine Entwicklung hin zu einer auf Schrift, Ausbildung u.a. kulturellen Techniken beruhenden Zivilisation gemacht, die auch Frauen zugute gekommen ist. Wenn die Taliban ihren Staat ohne oder sogar gegen die Frauen aufbauen wollen, dann müssen sie die Unterdrückung verstärken. Für zu viele Afghanen gehören inzwischen städtisches Leben, Krankenhäuser, Schulen zu den Selbstverständlichkeiten. Sie werden die Taliban an ihren Erfahrungen mit Kultur und Zivilisation messen. Das geht nur mit Lehrerinnen und Krankenschwestern und auch nicht ohne Schriftstellerinnen und Filmemacherinnen.
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