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Die Kirchenkrise ist eine Freiheits- und damit eine Gotteskrise

Unter der Kirchenkrise liegt eine Gotteskrise. Nicht Gott ist in der Krise, sondern die Vorstellung von Gott, die die Kirche vermittelt. Der Grund, warum sich immer mehr Menschen von der Kirche zurückziehen, ist das Gottesbild, das ihrer Lebenserfahrung und ihrer Weltsicht zu kindlich erscheint.

Seit ich mich mit der Frage nach Gott und der Freiheit beschäftige, bin ich auch auf der Suche danach, was die vielen Kirchenaustritte zu bedeuten haben. Ich erlebe nämlich nicht, dass die Menschen sich grundsätzlich von etwas „Höherem“ abwenden. Oberflächlich betrachtet könnte man meinen, dass es der Missbrauch, der Klerikalismus und andere schlechte Erfahrungen sind, die zu dem Schritt des Austritts führen. Ich stoße allerdings mit meinen Erfahrungen und Beobachtungen auf einen tieferliegenden Grund. Mir scheint die Kirchenkrise ist in der Auflösung des bisherigen Gottesbildes begründet.

Gründe für den Verlust von Kirchenmitgliedern

Es gibt sicher unterschiedliche Gründe für Menschen die Institution Kirche zu verlassen. Aber der entscheidende Grund liegt für mich im Gottesbild, das dem Freiheitsverständnis unserer Gesellschaft und den Vorstellungen von heute nicht mehr gerecht wird. Die zentrale Aufgabe der Kirche, Gläubigen ein Gottesbild zu vermitteln, das tragfähig, sinnstiftend, glaubwürdig auch in den unterschiedlichsten Zeitepochen Geltung hat, das einem entwickelten Erwachsenen entspricht, scheint der Kirche nicht zu gelingen. Dafür habe ich bei Fritz Oser eine Erklärung gefunden:

Religiöse Entwicklung

Die Vorstellung von einem höheren „Wesen“ bildet sich bereits im magischen Alter aus. Da kann das Kleinkind in diesem „Wesen-Gott“ seine Ängste, Sehnsüchte und Wünsche unterbringen. Gott hat da einen wichtigen Platz, der dem Kind Schutz und Sicherheit bietet. Gerate ich vor der Pubertät in die nächste religiöse Stufe, die „Do ut Des – Stufe“, in der ich in den Handel mit Gott gehe, erlebe ich in Gott ein Gegenüber, das ich mir durch Gehorsam gewogen mache, damit ich das bekomme, was ich mir von ihm erhoffe. In dieser Stufe erlebe ich mich sehr abhängig von Gott, der für mich zum Handlungspartner wird. Ich verhalte mich angepasst, um zu bekommen, was ich brauche. 

Auf der Stufe festgehalten

Es ist dieses Gottesbild, das von Kirchenverantwortlichen über viele Jahre in den Predigten bedient wurde. Und auch heute noch, wenn über das Gewissen subtil Druck ausgeübt wird. Ein Gott, dem man dienen muss, damit er mein Leben zum Gelingen bringt, wird dann vorgestellt. Werde ich auf dieser Entwicklungsstufe festgehalten, bleibt meine Freiheit, meine Selbstbestimmung und daraus folgend die Letztverantwortung für mein Leben auf der Strecke.

Selbstverantwortung und Freiheit

Da unsere Gesellschaft sich weiterentwickelt, die Demokratie seit über siebzig Jahren ein autoritäres System abgelöst hat, ist auch in uns der Wunsch nach mehr Freiheit und Eigenverantwortung zunehmend gewachsen. Das Gottesbild auf der Stufe des Gebens um zu bekommen passt nicht mehr mit dem heutigen Freiheitsverständnis zusammen.
Diese gesellschaftliche Entwicklung wird durch Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie bestätigt. Es folgt nämlich auf das Gottesbild der späten Kindheit die Pubertät. Ich gerate in eine Phase, in der ich mich nicht mehr von anderen so bestimmen lasse wie bisher. Ich erlebe in mir einen großen Freiheitsdrang. Ich will mein Leben selbst in die Hand nehmen. Spätestens jetzt hat die Kirche mit dem Gottesbild auf der 2. Stufe ausgedient. Die 3. Stufe der religiösen Entwicklung ist durch Konflikt bestimmt. Ich suche, auch religiös, den Mut, der Energie freisetzt, um mein Leben selbst zu gestalten. Ich lehne mich in dieser Phase nicht nur gegen die Anordnungen und Entscheidungen meiner Eltern auf, sondern wähle auch den Gott in mir ab, der mich bis jetzt bestimmt und nicht nur die elterliche Autorität legitimiert hat. Ich muss mich deshalb von dieser Gottesvorstellung der 2. Stufe befreien, damit ich mein Leben selbst in die Hand nehmen kann. Auch fühle ich mich diesem Gott nicht mehr verpflichtet, weil er sowieso in der Vergangenheit meist nicht gehandelt hat, wenn ich ihn gebraucht hätte. Ich lehne nicht grundsätzlich ab, dass es etwas geben kann, das viel größer ist als wir Menschen, aber ich lehne auf jeden Fall in dieser Stufe den Einfluss einer höheren Macht auf mein Leben ab.

Das Selbstverständnis in dieser Phase

In dieser Stufe bin ich am liebsten mit denen zusammen, die genauso denken wie ich selbst. Da braucht es nicht viele Diskussionen, um sich zu verständigen. Sich mit Gott zu beschäftigen, spielt da auch kaum eine Rolle. Deshalb kann sich auch mein Freundeskreis total verändern. Die Zeiten, in denen ich mir habe sagen lassen, dass ich Gott für mein Leben brauche, sind vorbei. Ich komme mit den anderen auch ohne Gott zurecht, fühle mich freier und selbstbestimmter. In der Begegnung mit den anderen, die auf meiner Wellenlänge liegen, erlebe ich die Bestätigung. Anders als mit dem Gottesbild der späten Kindheit kann ich in dieser Phase, in der ich mich von fremden Bestimmungsmächten losgemacht habe, bleiben. Es beginnt das Erwachsensein, daher brauche ich mich nicht mehr zu verändern. Ich kann mich in dieser Phase bis an mein Lebensende einrichten, wenn es mir an neuen Erfahrungen, an Menschen, die mir einen anderen Blick ermöglichen, die selbst aus einer tieferen Dimension ihre Freiheit leben, die mich teilhaben lassen an ihrer Vorstellung vom Sinn des Lebens, vielleicht sogar an ihrem Gottesbild.

In der Krise die Krise anschauen

Eigentlich hat die Kirche für diese Phase das Sakrament der Firmung, um den Jugendlichen ein Gottesbild zu eröffnen, in dem Gott in die Freiheit und Selbstbestimmung ruft und zugleich in die Letztverantwortung für das eigene Leben. Weil oft die Firmung in ein Alter vorgezogen wird, wo diese Auseinandersetzungen noch nicht virulent sind, verliert die Kirche immer mehr diejenigen, die im Übergang zum Erwachsenenalter ihre Vorstellung von Gott weiter entwickeln müssten. Auch für ReligionslehrerInnen wird diese Phase kompliziert. Religion wird oft als Unterrichtsfach abgewählt, weil sich die Jugendlichen nicht mehr mit der Religion auseinandersetzen wollen. Vielleicht befürchten sie auch, dass sie mit ihren Vorbehalten anecken.

Aus diesem Grund macht es Sinn, in der Krisenphase die Vorbehalte, Ablehnungen, die Kritik und die Verwerfungen der Jugendlichen ernst zu nehmen, damit eine solide Auseinandersetzung möglich wird, die den Anforderungen in einer digitalisierten Welt entspricht, in der immer mehr Weltanschauungen zur Auswahl stehen.
Die religiöse Krise betrifft jedoch nicht nur die jungen Menschen, sondern ich erlebe sie als eine gesellschaftliche Krise. Es scheint, als wären wir auf der Konfliktstufe stecken geblieben. Das, was über Jahrhunderte vermittelt wurde, reicht nicht mehr aus, um Erwachsene in ihrer Sinnsuche, in ihrer Gottessuche, in ihrer Sehnsucht nach Spiritualität zu unterstützen. Alles ist möglich, jeder sucht sich entsprechend seinen eigenen Vorstellungen aus den vielen Angeboten das heraus, was gerade zu ihm passt. Da spielt es eine große Rolle, in welchem Freundeskreis ich mich bewege, denn wir tun uns am liebsten mit denen zusammen, die wie wir denken. Das gibt genügend Sicherheit und reicht erst einmal aus, um dem eigenen Leben einen Sinn zu geben.

Durch die Stufen in die größere Freiheit

Fritz Oser hat in seiner Untersuchung der religiösen Stufen beschrieben, dass ich in jeder Stufe hängen bleiben kann, denn es braucht bestimmte Bedingungen, um die nächste Entwicklungsstufe zu erreichen. Um aus der Konfliktstufe, der Stufe der Ablehnung von Gott, in die 4. Stufe der Selbstverwirklichung zu kommen, brauche ich neue Erfahrungen und Menschen, die eine Stufe weiter sind als ich selbst. Erst sie können mir den Blick weiten, wenn sie sich nicht scheuen, mit mir zu diskutieren, die sich auf meine Kritik, auf meine Gottesablehnung einlassen. Die mich aushalten können und mich nicht gleich mit Gegenargumenten überzeugen wollen. Ich kann vielleicht sogar erleben, wie sie ihren Gott sehen, wenn sie mich an ihren Gottesvorstellungen teilhaben lassen, wenn sie selbst „Zeugnis ablegen“.

Ich bin gewollt, jeder ist gewollt

Auf der Suche nach einer tieferen Spiritualität und dem Sinn in meinem Leben bin ich auf „Etwas Größeres“ gestoßen, das mein Leben wollen muss. Denn ich habe mit meiner einzigartigen DNA und meinem unverwechselbaren Fingerabdruck auch als Person eine einzigartige Rolle. Das kann kein Zufall sein. Mit dieser Einzigartigkeit habe ich, wie jeder andere auch, einen besonderen Lebensauftrag, mit dem ich mit den anderen die Welt mitgestalten darf, um meinen, um unseren Beitrag für diese Gesellschaft zu leisten. Meine Begabungen, Talente und Kompetenzen, die ich mitbringe oder mir angeeignet habe, wären sinnlos und nutzlos, wenn ich sie nicht einsetzen würde und zur weiteren Entwicklung unserer Gesellschaft nutzbar mache. Gleichzeitig bin ich mit den anderen in die Freiheit gestellt, meine Person mit meinen Begabungen zu verwirklichen, mich zu entwickeln, damit andere davon profitieren. Auf diese Weise leiste ich meinen kleinen Beitrag für unsere Gesellschaft. Niemand zwingt mich dazu, auch Gott nicht. Aber nutze ich meine Freiheit nicht, um meine Berufung, meinen Lebensauftrag auszubilden, sie in die Tat zu bringen, schaue ich vielleicht am Ende meines Lebens auf zu viele verpassten Chancen. Da kann auch die Sinnfrage meines Lebens hochkommen.
Alters-Despressionen hängen auch damit zusammen, ob ich zufrieden auf mein Leben blicken kann, weil ich mich verwirklichen konnte. Die Sinnhaftigkeit meines Lebens hängt davon ab, ob ich durch meine Möglichkeiten andere in ihren Möglichkeiten unterstütze. Wenn ich mich mit meiner Freiheit verwirkliche, können andere auch ihre Freiheit nutzen. Erst das Zusammenspiel meiner Freiheit mit den Freiheiten der anderen ergibt eine gelingende Gemeinschaft.

Größer von Gott denken

Bei diesen Überlegungen ist mir deutlich geworden, wie viel größer unser christlicher Gott sein muss als der, der mir dauernd aus der Patsche helfen soll. Dieser Gott, an den ich glaube, will mich als selbstbestimmtes Wesen, das seine eigene Freiheit für das Gemeinwesen nutzt. Er will mich nicht gängeln, sondern ermöglicht mir die Verantwortung und Selbstbestimmung für mein Leben. Ich erlebe Gott allumfassend als denjenigen, der immer in allem da ist, der mir den Rücken stärkt, dessen Geist mich begleitet und oft Wegweiser ist, mich für ein eigenständiges Leben ermutigt, auch schwierige Projekte anzugehen. Für diese Erkenntnis, wie für diesen Gott, mit dem ich auf meinem Lebensweg bin, der mir in Christus nahe ist und an dem ich mein Verhalten ausrichten kann, bin ich sehr dankbar.

Manchmal treffe ich jetzt im Alter auf Menschen, die darüber klagen, dass sie ihr Eigenes nicht entwickeln konnten. Hätten sie nicht genau in der Krisenphase die Unterstützung von anderen Menschen, Freunden oder Jugendgruppen gebraucht, um sich zu trauen, ihr Eigenes zu verfolgen. Hätte es nicht gut getan, die Freiheit für die Entwicklung der eigenen Person zu spüren und vielleicht auch einen Gott zu entdecken, der ihnen dazu die Kraft gibt? Ich frage mich, wer ihnen eigentlich diesen Rückhalt vorenthalten hat.


Kategorie: Analysiert

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