Kirchtürme hinter den Kreml-Mauern, Foto: hinsehen.net E.B.

Putin verstehen 1: Warum hat er angefangen?

Es geht mit dem Einmarsch in die Ukraine um die Idee von Russland. Unter Putins Herrschaft hat sich das Land gegen den Westen entschieden. Die Ukraine dagegen für den Westen. Sie wurde damit zu erfolgreich. Als Kleinrussland gehört sie aus Sicht der Russen zu ihrem Land. Russisches Gebiet kann sich nicht abspalten. Aber warum will die Ukraine nicht mehr zu Russland gehören:

Nimmt man die Erklärungen, auch des Patriarchen Kyrill, wörtlich, kann man Putin verstehen. Es geht natürlich um Macht. Diese verlangt eine Idee. Die Idee muss Russland groß machen, denn für die Russen ist es wichtig, Bürger einer Großmacht zu bleiben. Diese Idee wird von der der Ukraine infrage gestellt. Deshalb ist der Einmarsch aus Sicht der Russen kein Krieg, sondern nur eine militärische „Intervention“.

Warum darf die Ukraine nicht westlich werden:

Die Ukraine will nicht zu Russland, sondern zum Westen gehören. Also stellt das die Idee von Russland infrage. Würden die Moskauer und Petersburger von den Ideen des Westens erfasst, dann wird Russland ein Teil des Westens und damit auch von den Amerikanern beherrscht. Will Russland Großmacht bleiben, dann kann es die Ukraine nicht an den Westen abgeben. Aus russischer Sicht ist die Ukraine Teil von Russland. Die Heeresführung wie die Berater Putins haben wohl wirklich daran geglaubt, dass die Mehrheit der Ukrainer weiter zu Russland gehören will. Und der Westen hat geglaubt, dass die Russen Putin loswerden wollen. Er wird weiterhin als der alleinige Garant gesehen, der den Zusammenhalt des Vielvölkerstaates garantiert. Dann ist allerdings immer noch zu erklären, warum der Moskauer Patriarch die antiwestliche Propaganda übernommen hat:

Warum muss der Westen als dekadent dargestellt werden:

Der Westen ist für die Russen attraktiv. Die Segeljachten der Oligarchen liegen nicht in Schwarzmeerhäfen, sondern an der Côte Azur. Ihre Wohnungen haben sie in den Nobelvierteln der europäischen Geldmetropole London. Der internationale Zahlungsverkehr wird in Dollars abgewickelt. Das renommierte Kaufhaus Gum, das auf dem Roten Platz gegenüber dem Kreml liegt, hatte nur Markenartikel aus dem Westen. Putin muss diese westlichen Einflüsse zurückdrängen, zumindest die USA aus der Ukraine. Jedoch macht das eine antiwestliche Propaganda schwierig. Deshalb kann er mit den Themen "Homosexualität", „Transgender“ und auch Feminismus den Westen als dekadent darstellen und damit den Russen das Gefühl geben, in einem stabileren Staat zu leben. Auch wenn die Ukraine nicht wegen Paraden querer Menschen für Russland gefährlich geworden ist, die Propaganda gibt den Russen das Gefühl moralischer Überlegenheit. Möglicherweise haben der westliche Lebensstil bereits die jungen Leute in den zwei dicht besiedelten Regionen von Moskau und Sankt Petersburg erfasst, so dass die Orthodoxe Kirche eine Distanzierung der Jugend befürchtet.

Warum der Donbass

Im Osten, nicht im Norden oder Süden der Ukraine, leben immer noch viele Russen. Bereits unter den Zaren und dann in der Sowjetunion wurden Russen in den eroberten Gebieten angesiedelt. Das trifft für das Industriegebiet im Osten der Ukraine zu. Schon in der Sowjetzeit konnten sich Gefängnisinsassen freikaufen, wenn sie sich für den Bergbau oder die Stahlindustrie im Donbass meldeten. Nicht nur diese Zuwanderer, sondern der ganze Osten der Ukraine hat Russisch gesprochen. Da diejenigen, die ukrainisch sprechen, auch Russisch verstehen, die Russischsprechenden aber nicht das Ukrainische, war es für die Ostukrainer naheliegend, gar nicht erst Ukrainisch zu lernen. Das ist vergleichbar mit Spanien und Portugal. Warum sollen die Spanier Portugiesisch lernen, wenn sie sehr viel mehr sind und eine viel größere Fläche besiedeln als die Portugiesen. Zudem gilt das Russische als Sprache der Intelligenz und das Ukrainische nur als Dialekt.
Hinzu kommt, dass Belarus sein Militär Putin nicht zur Verfügung stellt. Deshalb ist der Norden für die Ukraine nicht erheblich gefährdet. Sie konnten das Vorrücken russischer Panzer von Norden auch deshalb verhindern, weil sie die Ebene unter Wasser gesetzt haben.

Warum bloß eine "Militärische Intervention":

Der Einmarsch in die Ukraine ist aus russischer Sicht kein Krieg gegen ein fremdes Land, sondern eine Maßnahme gegen eine abtrünnige Provinz. Würde von einem Krieg gesprochen, dann wäre das die Anerkennung der Ukraine als eigenständiger Staat.

Warum der Widerstand der Ukraine

Die Ukrainer wurden als Kleinrussen bezeichnet. Die Zaren haben ihre Sprache unterdrückt. Auch gehört die Westukraine erst seit dem Hitler-Stalinpakt zu Russland. Galizien und die Bukowina waren als ehemals österreichische Gebiete nach dem Ersten Weltkrieg an Polen gefallen. Hitler und Stalin teilten die Gebiete zwischen Polen und der Sowjetunion auf. Ostpolen wurden die Bukowina und Galizien genannt, wurden der damals sowjetischen Ukraine zugeschlagen, die baltischen Staaten Teile der Sowjetunion. Als Stalin die Westukraine annektierte, "liquidierte" er die Oberschicht, indem er die Krawattenträger nach Sibirien deportieren oder sie gleich umbringen ließ. Vorher hatte er die ukrainischen Bauern, die sich der Kollektivierung 1932/33 widersetzten, in den Hungertod getrieben. Dieser Holodomor genannte Genozid kostete mehr als drei Millionen Ukrainern das Leben.
Auch die Geschichte zeigt, dass die Ukraine ursprünglich nicht zu Moskau gehörte, vielmehr war Kiew die Metropole der Rus, also auch für die Großfürstentümer auf dem Gebiet von Belarus und Russland. Mit der Mongolenherrschaft endete 1240 diese Funktion. Weil der Moskauer Großfürst als erster eine Schlacht gegen die Mongolen für sich entscheiden konnte und die Zaren in die Gebiete nachrückten, aus denen sich die Mongolen zurückzogen, wuchs das Moskauer Großfürstentum zur bestimmenden Macht. Die Ukraine gehörte noch nicht zum Moskauer Großfürstentum. Vielmehr gründeten Kosaken zuerst einen ukrainischen Staat, als sie 1648 einen Aufstand gegen die polnische Besetzung begannen. Die Polen hatten im 17. Jahrhundert nicht nur die heutige Ukraine besetzt, sondern konnten für kurze Zeit einen polnischen Adeligen als Zaren einsetzen. Die Kosaken setzten keinen Zaren ein, der die Herrschaft an eigene Nachkommen weitergeben konnte, sondern wählten als Anführer einen Hetmann. Dieser konnte auch wieder abgesetzt werden.
Diese kurze Skizze zeigt nicht nur, dass die Ukraine eine andere Sicht der Verhältnisse aus der Geschichte mitbringt, sondern dass sie, anders als das Moskauer Reich, eine demokratische Tradition hat.

Dieser Beitrag ist aus einem längeren Gespräch mit Herrn Fritz Martin Sturm, Frankfurt hervorgegangen. Es folgen noch zwei weitere Beiträge:

Links:
Putin verstehen 2: Warum kein Waffenstillstand
Putin 3: Russland und die Folgen
Putin – vom Kriegsgott gefesselt

Gewalt, Thema der Russen
Warum müssen die Städte in der Ukraine zerstört werden. Manchmal gibt das Fernsehen Aufschluss über die Volksseele, wenn ein Programm großes Interesse weckt. In Russland ist es eine Serie über eine Jugendgang. Hier zum Weiterlesen

Russland und der Westen
Nach dem Untergang der Sowjetunion wendete sich Russland dem Westen zu. Dann orientierte es sich, wie bereits unter den Zaren nach Osten. Diese Abwendung vom Westen geht auf das 15. Jahrhundert zurück. Hier Beiträge, um die Russen zu verstehen. Hier zum Weiterlesen 

 

 


Kategorie: Verstehen

Kommentare (0)

Keine Kommentare gefunden!

Neuen Kommentar schreiben

Zum Seitenanfang