Evolution gefragt: Verbindlichkeit grundlegender Werte

Russland fühlt sich im Recht, wenn seine Armee in die Ukraine einmarschiert. Warum können andere Länder Russland dieses Recht absprechen? Das erscheint der ganzen Welt selbstverständlich, aber nicht den Russen. Welches Recht hat "Recht" und damit Geltung, auch für die Russen:

Russland erklärt den Einmarsch in die Ukraine als notwendige Verteidigung, damit die Ukraine nicht zum Aufmarsch-Gebiet für die Nato wird. Der Moskauer Patriarch sieht die orthodoxen Gemeinden, die sich der 2018 neu gegründeten Ukrainischen Orthodoxen Kirche angeschlossen haben, als sein Hoheitsgebiet, das die russische Staatsmacht ihm zurückgeben wird. Wie in den anderen Kriegen beansprucht jede Seite, im Recht zu sein. In diesem Krieg muss man den Aggressor überzeugen, dass sein Angriff gegen das Völkerecht verstößt. Das hat der Haager Gerichtshof bereits entschieden. Es wurde jedoch gleich dazu gesagt, dass Russland sich dem Urteil nicht unterwerfen wird. Wie bekommen die Werte, die dem Urteil des obersten Gerichts zugrunde liegen, mehr Gewicht? Sie müssen offensichtlich menschlicher Zustimmung entzogen sein. Die Theorie, die Jürgen Habermas entwickelt hat, setzt Putin außer Kraft. Die menschliche Zustimmung zu grundlegenden Werten ist wichtig, aber nicht ausreichend.

Dieser Beitrag schließt an Vorherige an und treibt die Frage nach den Werten weiter. Es geht nicht um die Begründung, warum die Werte wertvoll und damit fordernd sind, sondern ob sie nicht nur gefordert sind, sondern über Geltung verfügen, auch für jeden Russen

Wer verhilft dem Recht zur Geltung:

Das Recht in sich scheint zu schwach zu sein, um seine Geltung durchzusetzen. Das bleibt es insoweit, wenn seine Geltung allein von der Zustimmung der Menschen abhängt. Denn wenn nicht alle zustimmen, kann ein Land in ein anderes einmarschieren. Die Psychologie eines solchen Bruchs des Völkerrechts wird von der russischen Regierung offengelegt. Das Land muss sich verteidigen und beschwört eine Gefahr herauf, nämlich dass der Überfall des nationalsozialistischen Deutschlands in der Gestalt der NATO wieder bevorsteht. Zudem sehen die Russen den Gerichtshof in Den Haag als eines der westlichen Instrumente, ihr Land ins Unrecht zu setzen. Es müsste also Werte geben, die die Russen anerkennen. Die müssten dann von einer dem Menschen übergeordneten Autorität hergeleitet werden, denn die von Menschen vereinbarten Grundsätze haben offensichtlich nicht diese Autorität. Für die Gläubigen in Russland wäre Gott diese Instanz. Da der Patriarch von Moskau den Krieg rechtfertigt, kann ein orthodoxer Christ jedoch davon ausgehen, dass die Soldaten seines Landes keine Sünde begehen, wenn sie auf Ukrainer schießen. Es wird deutlich, wie schwerwiegend die russischen Bischöfe den Kern der Religion schädigen, weil sie ihrem Vorsitzenden nicht das Wort verbieten. Das könnten sie, denn die Synode steht über dem Patriarchen. Wenn eine Überzeugung gefunden werden könnte, die die Gläubigen wie die Atheisten zur Anerkennung von in Werten begründeten Rechtsnormen führt, dann müsste es eine Autorität geben, die sie nicht manipulieren können?

Die Anerkennung der Menschenrechte

Geltung haben Werte früher erhalten, weil sie auf Gottes Willen beruhen. Wenn Gott anerkannt wird und die Werte, oft als Gebote formuliert, auf seinen Willen zurückgeführt werden können, erlangen sie Verbindlichkeit. Durch den Missbrauch kirchlicher Autorität hat die Religion bereits in den Konfessionskriegen ihre Legitimität verloren und dasselbe wird die Orthodoxe Kirche als Konsequenz ihrer Rechtfertigung eines Angriffskrieges auch erfahren. Denn eine Konsequenz der Konfessionskriege war die Abwendung on der Metaphysik, dass es eine Instanz gibt, die den Menschen verbindlich auf Gebote festlegen kann. Nun brauchen Werte aber Geltung.
Die Philosophen setzen seit 200 Jahren auf die Vernunft, um Rechtsnormen herauszuarbeiten und diesen Anerkennung zu verschaffen. Diese geschieht im Austausch von Argumenten. Die einzige Regel, die dabei beachtet werden muss, ist die gegenseitige Akzeptanz, dass jeder Argumente formulieren und Gegenargumente ins Feld führen kann. Jürgen Habermas hat auf diesem Grundsatz sein Verständnis von Demokratie aufgebaut. Er hat eine Begründung erarbeitet, die jetzt ihren Ernstfall erlebt. Der Haager Gerichtshof hat auf der Basis des Völkerrechts gesprochen, sein Urteil erlangt aber für den Krieg keine Geltung.
Wenn die Werte, für die die Ukrainer kämpfen, auch gelten sollen, dann muss das Verfahren, mit dem sie Geltung erlangen, auch die Russen überzeugen. Denn Habermas gibt als Bedingung für das Verfahren vor, dass Werte dann Geltung beanspruchen, wenn alle Beteiligten den Werten zustimmen. Das funktioniert in Gruppen, Verbänden, Parteien für ihre interne Organisation. Wer nicht zustimmt, kann sich ihrer Geltung entziehen, indem er die Gruppe oder den Verband verlässt. Wenn es um eine allgemeine Verbindlichkeit geht, unabhängig von Alter, Geschlecht, Nationalität, dann greift dieses Verfahren offensichtlich nicht mehr. Oder wer entscheidet, ob die Ukrainer den Angriff mit Waffen entgegentreten können. Dieses Recht bestreiten selbst Russen ihren ukrainischen Verwandten. Umgekehrt bestreiten die Ukrainer den Russen das Recht, ihr Land wieder der Moskauer Regierung zu unterstellen. Es wird deutlich: Die die Russen müssten zur Einsicht lommen, dass die Werte „Integrität eines Staates“, „Unabhängige Gerichtsbarkeit“, „Medienfreiheit“, „Klärung von Konflikten ohne Gewalt“ auch für ihr Land nutzbringend sind. Da also der Konsens unter Menschen Werten nur dann Geltung verschafft, wenn alle von dem Vorrang der Werte überzeugt sind und die Religion ihre Glaubwürdigkeit verwirkt hat, die für alle Menschen verbindlichen Gebote zu vertreten, braucht es einen anderen Weg, die Russen zu überzeugen.

Evolution durch Werte, die sich selbst durchsetzen

Da die Autorität Gottes nicht für alle Menschen einsehbar ist und die Orthodoxe Kirche diese Autorität durch ihre Billigung des Krieges in den Köpfen der Russen zertrümmert hat, müssen Gläubige wie Anhänger des Vernunftglaubens einen anderen Weg in die Zukunft suchen. Der kann die Geltung von Werten in den Werten selbst finden. Es gibt nämlich Werte, die nicht vom Menschen gemacht sind. Ein solcher Wert ist "Gerechtigkeit". Die Beziehungen und die Wirtschaft immer neu nach den Prinzipien der Gerechtigkeit zu ordnen, kommt nicht aus dem Konsens der Menschen, sondern ist ihnen vorgegeben. Auch die freie Berufswahl ist ein solcher Wert. Die Geltung dieses Wertes kommt auch nicht erst durch Übereinkunft zustande, sondern leitet sich aus der Freiheit her. Wenn der Mensch frei ist, dann dürfen die Felder, in denen sich seine Freiheit verwirklicht, nicht von anderen bestimmt werden. Ein Wert, der dem Einzelnen anvertraut ist, ist "Gesundheit". Weil der Einzelne Voraussetzungen braucht, um überhaupt Werte in seinem Leben, so in seinem Beruf, zu verwirklichen, ist er auf seinen Körper und seinen Geist angewiesen. Dafür muss er selbst sorgen. Wenn er diese wegen Behinderung nicht einsetzen kann, braucht er die Unterstützung anderer, um ein menschenwürdiges Leben zu führen. Ob andere die Unterstützung geben, ist nicht von ihrer Zustimmung abhängig. Der Wert, die Lebensbedingungen für Behinderte zu schaffen, ist vorgegeben und nicht von Menschen erst entwickelt worden. Neben diesen, dem Menschen vorgegebenen Werten gibt es eine Vielzahl von Werten, die nur diejenigen beanspruchen, die sie gemacht haben. Das betrifft z.B. den Titelgewinn im Sport. Die meisten Medaillen bei einer Olympiade zu gewinnen, verpflichtet andere Nationen nicht dazu, die Wettkämpfer des betreffenden Landes gewinnen zu lassen. Im Ukrainekrieg gibt es keine Verpflichtung der Ukraine, die von Russland geforderte Wiederherstellung der Sowjetunion zu unterstützen. Da die Russische Föderation unter Jelzin selbst 1991 aus der Sowjetunion ausgetreten ist, gibt es auch keine Begründung aus der Geschichte. Der Vergleich zeigt, dass es viel mehr Werte gibt, die Menschen, Unternehmen, Parteien, Verbände wie einzelne sich selbst vorgehen haben als für alle verbindliche Rechtsnormen. Ein guter Teil nicht von Menschen gemachten Werte wurden in den Menschenrechten formuliert. Damit ist das Gesamt der Werte noch nicht erfasst, da die Menschenrechte nur das vorgeben, was der Staat, die Familie u.a. Institutionen, in denen wir Zwangsmitglied sind, dem Einzelnen überlassen müssen. Der drohende Klimakollaps und das Artensterben zeigen, dass es noch Werte gibt, die nicht erst durch Konsens zustande kommen. Auch das Tierwohl dürfte ein solcher Wert sein, weil es Tieren ein eigenes Daseinsrecht zuzubilligen ist, welches dem Auto oder Handy nicht zukommt.  

Wir können der Evolution vertrauen – die Ukraine macht es vor

Falls es Russland nicht gelingt, in Kiew eine Regierung zu installieren, die das Land wie Belarus Moskau unterstellt, bleibt trotzdem der lange Weg, die Russen von der Geltung der Menschenrechte und des Völkerrechts zu überzeugen. Das wird auch irgendwann gelingen. Denn die Werte, für die die Ukrainer kämpfen, werden durch den Krieg nicht ihrer Geltung beraubt, vielmehr überzeugt die russische Armee Menschen auf der ganzen Welt, dass die Werte, für die die Ukrainer ihr Leben einsetzen, für das Zusammenleben unentbehrlich sind. Es zeigt sich auch, dass diese Werte aus sich selbst heraus überzeugen müssen. Denn solange die Russen den Eindruck haben, diese Werte würden ihnen aufgezwungen und damit ihre Identität zerstören, wird es weiter Kriegsgefahr geben. Das Programm des Wertetransfers hätte längst in Gang gesetzt werden müssen, denn der Abbau der Menschenrechte war über viele Jahre zu beobachten. Auch die USA müssen ihre Militäreinsätze kritisch analysieren. Ihr Ziel, die Demokratie einzuführen, haben sie nur in Südkorea erreicht, aber weder in Vietnam, noch in Persien, Afghanistan, im Irak. Deutschland wird auch mit den 100 Milliarden zur Aufrüstung der Bundeswehr nicht die Friedensordnung bauen, die Europa vor einem nächsten Krieg bewahrt.

Die Evolution geht langsam voran – auch für die Geltung der Menschenrechte in Russland

Ein Programm, das zur Erkenntnis der Menschenrechte und zur Anerkennung des Völkerrechts führt, sollte auf 50 Jahre angelegt sein. Die Evolution verspricht den Erfolg – sie ist auf ein Zusammenleben angelegt, das den Frieden mit der Natur und die Geltung von Werten als Grundlage hat. Diese Überzeugungsarbeit wird durch die positiven Erfahrungen unterstützt, die mit der Geltung der nicht von Menschen gemachten Werte ermöglicht werden. Das zeigen die Ukrainer. Sie kämpfen für Medien- und Kulturfreiheit, die Geltung der Menschenrechte, eine von der Regierung unabhängige Rechtsprechung, für offene Grenzen und kulturellen Austausch. Sie wissen aus der Sowjetzeit, dass die Geltung dieser Werte nicht selbstverständlich ist. Da im Westen Putin-Verehrer immer mehr Zustimmung erfahren, ist ein solches Programm auch für die Länder der EU dringend geworden.

Die Interessen Deutschlands werden durch 1 Milliarde für den kulturellen Austausch mit Russland effektiver unterstützt als durch 99 Milliarden für Panzer und Drohnen.

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Kategorie: Verstehen

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