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Habermas - Philosophiegeschichte - für Theologen lesenwert

"Auch eine Geschichte der Philosophie" nennt der Autor seine Darstellung. „Auch“, weil es der Philosophie um die Themen geht, die die Religion schon vorher aufgegriffen hat. Philosophie und Religion waren bis ins 14. Jahrhundert aufeinander bezogen, mit dem Nominalismus trennten sich ihre Wege. Was kann der Theologe aus der Lektüre mitnehmen.

1.700 Seiten passten in die Corona-Quarantäne. Die Lesefrucht: die Geschichte des abendländischen Denkens einmal in ihrem Prozess vor Augen zu haben. Es ist eine ambitionierte Geschichte, aber auch nur Menschenwerk. Jeder, der den Denkwegen, nachgegangen ist, wird den Anspruch, das Denken könne die menschliche Existenz ausschöpfen, als oberflächlich einordnen. Daraus folgt direkt, dass die Philosophie noch viele offene Felder bestellen kann. Das Denken kommt nicht aus der Philosophie, sondern die Philosophie geht dem Denken nach und hat eine große Zukunft vor sich, wenn sie sich wieder den Herausforderungen stellt, nämlich den Menschen in ein neues Verhältnis zur Biosphäre zu bringen, das Raum- und Zeitverständnis der Relativitätstheorie einzuholen, endlich den Datenschutz wie früher einmal Presse- und Versammlungsfreiheit durchzusetzen und die Bewältigung der Künstlichen Intelligenz nicht der Betriebswirtschaftslehre zu überlassen.
Zwischen den Denkbemühungen der Philosophie und dem, was die Religion thematisiert, bestand lange ein Wechselverhältnis. Mit ihren Riten und Mythen gibt die Religion der sprachfähigen Affenart „Mensch“, die sich als Homo sapiens zum Beherrscher der Biosphäre aufgeschwungen hat, eine Struktur. Die Themen der Philosophie sind in diesen Erzählungen schon da, werden aber erst mit der Achsenzeit philosophisch aufgegriffen. Es ist nicht nur der Aufweis der Existenz Gottes, sondern die Begründung ethischer Normen und die Grundlegung einer Rechtsprechung. Die Religion konnte die Geltung ethischer Normen im Willen Gottes verankern. Die Philosophie kann die Normen einsichtig machen, aber nicht so einfach ihre Verbindlichkeit erweisen. Dieser Frage folgt Habermas im zweiten Band seines Werkes. Diese Beziehung wird indem geistigen Aufbruch der Achsenzeit hergestellt, die Epoche im vorchristlichen Jahrtausend, in dem man erst von Hochreligionen sprechen kann und in dem die Philosophie entstanden.

Hier kann die Theologie sich die Einsicht abholen, dass erst mit der philosophisch entwickelten Vorstellung der Transzendenz die Vorstellung eines Aufenthaltsortes der Seelen in einer zeitenthobenen Welt möglich wurde:

Jenseitsvorstellung und Monotheismus

Ob die jüdischen Propheten, die griechischen Philosophen, die Upanischaden oder Laotse und Konfuzius, sie haben das Göttliche in eine andere Sphäre verlegt. Was die Theologie zu wenig reflektiert, wird aus der Darstellung der Achsenzeit deutlich: Erst wenn die Götter nicht mehr auf einem Berg wohnen, sondern in einem Jenseits dieser Welt, gibt es einen neuen Aufenthaltsort für die Seelen. Vorher sind die Götter nicht so verschieden von den Menschen, bloß unsterblich, während die Sterblichen in ein Schattenreich geschickt werden, bleiben die Götter auf der Erde. Erst wenn Sterne, Quellen, Lichterscheinungen, Donner und Blitz als Naturphänomenen ihres göttlichen Charakters entkleidet worden sind, kann der Polytheismus überwunden werden. Monotheismus wird dann eine philosophische Notwendigkeit.

Die Geltung ethischer Normen

Das große Anliegen der 1.700 Seiten ist die "verantwortete Freiheit". Es geht nicht nur um die Einsicht in ethische Vorgaben, sondern um deren Geltungsanspruch. Der war durch die göttliche Autorität gegeben und konnte von der Metaphysik begründet werden. Auch wenn Menschen gegen die Sinnrichtung der 10 Gebote handelten, also die Würde des Nächsten verachteten und beschädigten, haben sie die Geltung der moralischen Forderungen nicht infrage gestellt. Das ist mit der Rassen- u.a. Theorien geschehen. Der Kapitalismus setzt in vergleichbarer Weise die aus der Gerechtigkeit abgeleiteten Normen außer Kraft. Da wir mit dem Nominalismus in ein nach-metaphysisches Denken eingetreten sind, ist der Geltungsanspruch der Gebote für das menschliche Zusammenleben nicht mehr zwingend zu untermauern. Christen müssen sich auch fragen, wieso Konfessionskriege möglich waren. Psychologisch und politisch kann man das erklären, aus der Religion selbst aber nicht so leicht. Da Sunniten und Schiiten bereits seit mehr als 30 Jahren Krieg gegeneinander führen, wäre das eine große Hilfe, wenn die Theologie und die Religionsphilosophie ihre Deutungskompetenz diesem, von der Religion produzierten Faktum, widmen würden. An diesem und den anderen Fragen wird deutlich, dass die Philosophie nicht einfach ein enthobenes Denken praktiziert, sondern von Fragestellungen ausgeht und einen Weg zu deren Beantwortung sucht. Die Metaphysik, die bis ins 13. Jahrhundert das philosophische Denken bestimmte, baute auf der Ontologie, der Seinslehre auf. Als dieser Denkweg im 14.Jahrhundert an Plausibilität verlor, wurde die Erkenntnistheorie zum Königsweg der Philosophie.

Philosophie beginnt mit einer Entscheidung

In der Achsenzeit kam es in Griechenland, im babylonischen Exil jüdischer Theologen, in Indien und in China zu der Entscheidung, den Menschen in einer Transzendenz zu verankern. Das 13. Jahrhundert hat noch einmal eine Synthese geschaffen, indem es der Philosophie die Aufgabe stellte, die Aussagen der Religion über Herkunft und Ziel des Menschen argumentativ einzuholen. Diese Aufgabe stellt sich nach Habermas für die Begründung der Menschenrechte dem nachmetaphysischen Denken, wenn es sich denn dieser Aufgabe stellt. Vor dieser Entscheidung stand die Philosophie im 18. Jahrhundert. Habermas lokalisiert die Weggabelung bei Hume und Kant. Hume sieht dies nicht mehr als Aufgabe, nämlich die Themen und Standards der Metaphysik neu zu begründen, Kant sehr wohl. Diese Differenz spaltet die philosophischen Denkschulen, Habermas stellt sich als Gesellschaftstheoretiker auf die Seite Kants. Damit kann er den inneren Zusammenhang der Kritiken Kants aufzeigen, nämlich die Kritik der reinen Vernunft nicht im Sinne Humes zu lesen, sondern um die Befähigung der Vernunft aufzuzeigen, zu begründeten Aussagen zu kommen, um damit die Geltung ethischer Normen zu untermauern. Eine der lesenswertesten Passagen, die zeigt, wie Denken als Prozess funktioniert. Das erklärt für auch, warum Habermas Schopenhauer und Nitzsche in seiner Geschichte des Denkens auslässt. Sie sind Hume gefolgt. Habermas bleibt im eigenen Resumée dann auch bei Kant stehen, den er mit der von Peirce entwickelten Konzeption öffnet, dass Vernunft nicht nur im Kopf des individuellen Denkers stattfindet, sondern im Austausch der Beobachtungsdaten und der Argumente.

Nominalismus und Ontologie – die Philosophie trennt die Konfessionen

Als katholisch sozialisierter Theologe ist mir die Entscheidung des 19. Jahrhunderts, sich an Thomas v. Aquin zu orientieren - sie ist wohl nur instinktiv erfolgt - tragfähig und erklärt mir zugleich, dass hier die Differenz zur reformatorischen Theologie zu lokalisieren ist. Was für den Katholiken klar ist, erscheint dem Protestanten deshalb fraglich, weil er vom 14. Jahrhundert geprägt ist. Für die Ökumene ist es vielleicht produktiver, auf das unterschiedliche Wirklichkeitsverständnis einzugehen, um dann endlich festzustellen, dass eine Annährung nicht im Rückgriff auf das 16. Jahrhundert, sondern in einer neuen Philosophie zu suchen ist. Zu suchen ist ein neues Wirklichkeitsverständnis, das in der Physik schon gefunden ist. Das würde den Theologen helfen, im heutigen Weltbild anzukommen und ihnen eine Ausgangsposition schaffen, z.B. das Verständnis der Eucharistie in neuen Kategorien zu formulieren, die Kirche nicht nur biblisch, sondern auch als gesellschaftliche Größe neu zu entdecken und weitere Frage als Herausforderung zu sehen, um mit einer neuen Begrifflichkeit die gemeinten Glaubensinhalte zu erhellen. Das wäre auch ein Beitrag für das Gespräch mit dem Islam. Um von den asiatischen Religionen ernst genommen zu werden, die in ihrem Wirklichkeitsverständnis wahrscheinlich aktueller sind als die christlichen Theologen, kann die Physik des 20. Jahrhunderts ebenfalls hilfreich sein. 

Es gibt keine Philosophie der Philosophie

Die beiden Bände von Habermas kann man nicht im üblichen Sinne besprechen, also sich auf einen Stuhl setzen und überlegen, wie das Buch in das Regal einzuordnen ist. Das setzt ja nicht nur voraus, dass der Rezensent alle Seiten gelesen hat, sondern es einen Standpunkt gibt, der mehr überblickt als der wohl kompetenteste Kenner der Geschichte des Denkens. Es ist ein Buch zum Weiterdenken. Dafür braucht es eine Zielbestimmung

Nach Metaphysik und Naturalismus ist ein neuer Ansatz notwendig.

Die beiden Bände der Philosophiegeschichte trennen zwischen Metaphysik und nachmetaphysischen Ansätzen. Es sind zwei sehr unterschiedliche Zielrichtungen. Die Metaphysik will den Menschen in der Transzendenz verankern und mit dem Eintritt der christlichen Missionare in die hellenistische Welt die Inhalte der Religion mit der Begrifflichkeit und den Einsichten der Philosophie untermauern. Im 14. Jahrhundert verliert dieser Ansatz seine Plausibilität. Die Metaphysik hat allerdings, wie Habermas zeigt, selbst die Sicht auf die Natur freigegeben, die dann empirisch erforscht werden kann. Denn das setzt voraus, dass man beim Forschen nicht auf eine göttliche Substanz stößt, wenn man ins Innere des Körpers, der Lebewesen, der Metalle und des Lichtes vordringt. Die Akzentuierung der Transzendenz hat die Natur für die Empirie freigegeben. Alles aus der Materie ohne ein Einwirken Gottes zu erklären, wurde dann Erkundungsgebiet der Moderne, das ihr durch die mittelalterliche Universität freigegeben worden war. Für die Erforschung der Natur konnte die Ontologie nicht mehr die Denkwerkzeuge bereitstellen. Die Mathematik erwies sich als viel produktiver.
Ähnlich ergeht es heute dem philosophischen Begriffssystem, das für die Erforschung der Materie und die Ingenieurwissenschaften entwickelt wurde. Um die Finanzmärkte vor Krisen zu bewahren und den Menschen neu in der Biosphäre zu verorten, braucht es neue Denkwerkzeuge, die nicht nur von außen die Phänomene beschreiben, sondern in das innere Gefüge vordringen. Zwar ist der Materialismus in der Lage, einen Impfstoff gegen ein vermehrungswütiges Virus zu entwickeln, aber nicht mehr, den Klimakollaps abzuwenden. Dafür bräuchte es spirituelle Ressourcen, die aber weder aus der Betriebswirtschaftslehre noch aus den mathematisch formulierten Naturgesetzen entspringen. Sie sind aber da, wenn das Denken sein Verhältnis zur Biosphäre anders als der Naturalismus bestimmen würde, z.B. wie die Aborigenes oder die Stämme im Amazonasgebiet. Wenn man sich ihre Geschichte in so kompetenter Darstellung vor Augen geführt hat, kann sich neuen Denkaufgaben zuwenden. Die beiden Bände ermöglichen es, das Erreichte mitzunehmen und sich neuen Kontinenten des Denkens zuzuwenden. Im Moment sind die Naturalisten aber noch so in ihren Denkschablonen verhaftet, dass sie wie die Metaphysiker im 17. und 18. Jahrhundert die neuen Felder, in die die Philosophie vordringen könnte, für inexistent erklären. Das zeigt, dass die Philosophie als menschliche Tätigkeit kontingent ist und Anstöße von außen braucht. Dazu eine philosophische Reflexion: 

Die Freiheit in ihren neuen Dimensionen erkunden

Mir scheint die Freiheit das Thema, das die Philosophie in der Gegenwart ankommen lässt. Bisher wird Freiheit eher als ein bekanntes Stockwerk im Denkgebäude der Philosophie vorausgesetzt. Aber Freiheit ist heute etwas mehr als Presse-, Versammlungs- und Religionsfreiheit. Es ist die Entscheidungsmacht, die der Mensch über die Biosphäre erlangt hat, der Mensch entscheidet, welche Regionen der Erde noch bewohnbar bleiben und welche Pflanzen und Tiere weiterleben dürfen. Die Mayas, so in einer Dokumentation in der Mediathek von ARTE, sind aus der Geschichte verschwunden, weil sie alle Bäume in Yukatan verbrannt haben und daher nicht mehr Mais anbauen konnten. Ähnlich stehen die Grundlagen der vom Materialismus ermöglichten technischen Welt zur Disposition. Für das Denken eröffnen sich neue Räume, Akademien, Verlage u.a. können mit ihren Formaten die Vorhut sein, Bildung wird, wenn die Räume in den Blick kommen, eine neue Dynamik entfalten.

Hier einige Überlegungen, zu denen die Geschichte des Denkens die Türen geöffnet hat.

Freiheit braucht eine Philosophie – ein Bild von der Welt
Die Freiheit ist global geworden
alt gewordenes Gehirn – alt gewordene Philosophie

Auf Themenpool.net ist eine Übersichtsseite postmaterialistisch im Aufbau. Von der Seite verlinken wir gerne auf Buchtitel und Tagungen post-materialistisch 


Kategorie: Gelesen

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