Rasante Veränderungen durch Digitalisierung, Globalisierung und Klimawandel sorgen bei jungen Menschen für Unsicherheit. Schule und Universität sollen nach wie vor überwiegend dafür sorgen, einen Arbeitsmarkt zu bedienen, der ein uneingeschränktes Wirtschaftswachstum garantiert. Arbeit wird als immer weniger sinnstiftend erlebt, zulasten körperlicher und psychischer Gesundheit. Selbst sichtbare Alarmsignale werden politisch und gesellschaftlich oft fehlgedeutet oder ignoriert: Burnouts und Depressionen, bei Menschen in sozialen Berufen, bei Pflegenden und Lehrenden, auch bei jungen Berufsanfängern und Studierenden, Individualisierung und politische Radikalisierung: All das scheint dem neoliberalistisch-kapitalistischen Anspruch von „höher, weiter, schneller“ keinen Abbruch zu tun.
Neoliberal: Für alles selbst verantwortlich
Gerade junge Erwachsene wünschen sich Jobs mit Sinn, von denen sie einigermaßen gut leben können. Die meisten wollen nicht einmal reich werden, noch große Autos kaufen, sondern lieber etwas Sinnvolles mit ihrem Leben anfangen. Doch in klassischen Anstellungsverhältnissen finden sie oftmals weder Sinn und Erfüllung, noch werden sie anständig bezahlt oder behandelt. Sie stoßen auf alte Hierarchie-Modelle, wenig Veränderungswille, Dienst nach Vorschrift, die Zahlen müssen stimmen. So kann Arbeit für viele junge Menschen nicht zu einem sinnstiftenden Lebensmittelpunkt werden, obwohl ihnen dieser Anspruch in Schule, Ausbildung und Studium häufig noch so eingetrichtert wird: „Mach, was Dir Spaß macht“.
40 Stunden und mehr im Büro absitzen, Einkäufen, Kochen, Putzen, Steuererklärung, Altersvorsorge, die schier nicht enden wollenden „To Do“-Listen des Erwachsenseins abarbeiten. Alles schaffen müssen, und zwar möglichst schnell, für alles im eigenen Leben verantwortlich sein. Junge Menschen erleben einen hohen Zeit- und Leistungsdruck. Der neoliberale Rhythmus von Arbeit, Konsum und Zerstreuung macht aber auf Dauer nicht zufrieden. Wofür gehe ich morgens ins Büro? Warum soll ich meine wenige Freizeit dafür opfern, mich innerlich für die nächste Arbeitswoche zu wappnen, am Wochenende Anlauf zu nehmen für Montag? Gibt es nicht mehr als „Work, Eat, Netflix, Repeat“?
Institutionen verlieren Deutungsmacht
Traditionell Sinn-, Gemeinschaft- und Orientierung-gebende Institutionen wie Kirchen, politische Parteien, Verbände oder Vereine brechen weg. Sie wirken oft nur noch als sich selbst erhaltende, nach innen orientierte, menschenfressende Struktur- oder Hierarchie-Monster, haben jedoch ihre Deutungsmacht verloren. Dazu kommt die fast 24/7 währende digitale Dauer-Aufmerksamkeit, die dem anderen alltäglichen Stress die Krone aufsetzt, eine „Fear of missing out“ (FOMO), die unterschwellige Angst, etwas Wichtiges nicht mitzubekommen. So tragen die digitalen, die Sozialen Medien und Apps zum Erhalt des neoliberalen Systems bei: Sie fordern große Mengen an Zeit und Aufmerksamkeit und stecken voller Werbung, Konsumangebote, Zerstreuungs- und Ablenkungsmechanismen.
Sinnsuche in Social Media
Weil der digitale Raum zentral zur Lebenswelt (nicht nur) junger Menschen gehört, nutzen sie ihn aber auch, um nach Sinn, Bedeutung für ihr Leben und nach Gemeinschaft zu suchen. Manche Social Media-Akteure, sog. Influencer (Beeinflusser) haben mehr Einfluss auf junge Menschen als deren Eltern, Lehrer oder traditionellen Medien.
Wie beantworten junge Menschen in den Sozialen Medien, einer ihrer wichtigsten Lebenswelten, die Frage nach Sinn und Bedeutung?
Food, Fitness und Fashion
Eine Weise, das Leben mit Sinn zu füllen, besteht darin, besondere Aufmerksamkeit der Pflege und dem Aussehen des eigenen Körpers zu widmen. Junge Frauen und Männer zeigen ihren Followern auf Instagram und YouTube, wie sie sich gesund ernähren, Sport machen und welche Kleidung oder Make-Up sie tragen. Sinn und Bedeutung bekommt mein Leben durch die Zahl der Kohlenhydrate und Fette, die ich zu mir nehme und die Stunden, die ich im Fitness-Studio verbringe, um gut auszusehen. So kann ich körperbetonte, modische Kleider tragen und mich gut fühlen. Egal, ob vegane oder kohlenhydratfreie Ernährung, Kraft- oder Ausdauersport. Dazu gehören Disziplin und Motivation. Natürlich verkaufen nicht wenige dieser Influencer*innen alle möglichen Kurse, Programme und Apps an ihre Nutzer*innen. Außerdem dienen ihre Social-Media-Auftritte nicht selten als bezahlte Werbefläche für Unternehmen, die ihre Food-, Fitness- und Fashion-Produkte unter die Leute bringen wollen.
Higher Self, Best You
Du fühlst Dich häufig traurig, ungenügend, erfolglos, frustriert? Dann bring deine innere Kraft zum Leuchten. Mit Meditation und Arbeit an Dir selbst kannst Du es ziemlich einfach schaffen, glücklich und erfolgreich zu werden. Lass Dich nicht länger zurückhalten. „Erschaffe Dein bestes Leben“. Vor allem junge Frauen kümmern sich in den sozialen Medien um Glück und innere Zufriedenheit. Diese Gefühle soll ich mir selbst erschaffen: Durch Meditation und Achtsamkeit. Die Influencer*innen haben es ja schließlich auch geschafft. „Ängste und Zweifel zeigen Dir, wo Du noch Blockaden gegen die Liebe in Deinem Leben aufrechterhältst.“ Mit solchen eindringlich, emotionalisiert vorgetragenen Weisheiten und mit geführten Meditationen versprechen Influencer*innen Glück, Erfolg und Zufriedenheit. „Du kannst schnell in deine Schöpferkraft kommen. Transformation kann schnell passieren, du musst nicht lange daran arbeiten oder darauf warten“. Zeit ist Geld: Ein vierwöchiger Online-Kurs mit Arbeitsmaterialien kostet dann schon mal mehrere Hundert Euro.
Schaut man sich als Journalist mit christlicher Prägung in den sozialen Medien um, stößt man natürlich auch auf christliche Angebote:
Hingabe an Jesus und die Bibel
Die Wahrheit für dein Leben findest Du in der Bibel. Dein Leben wird sinnvoll mit Jesus. Wenn Du die Anweisungen der Bibel befolgst, wirst Du glücklich. Gott will keinen Sex vor der Ehe. Der Mann soll die Frau in der Ehe geistlich anleiten. Das leben christliche Influencer in den sozialen Medien vor, nicht selten freikirchlich oder evangelikal, teilweise mit leichtem oder starkem fundamentalistischem Touch. Zu jeder Frage gibt es eine passende Bibelstelle. Gib Dich Jesus voll hin! Die Antwort auf die komplexen Fragen der Welt stehen alle in der Bibel, und es braucht innovative Formen, um die frohe Botschaft, das Evangelium, unter die Leute zu bringen, in den digitalen Medien und auf großen, stark choreographierten Events und Konferenzen mit Lichtshows und Lobpreis, teilweise zu nicht zu knappen Eintrittspreisen. Hinter der Produktion mancher christlicher Influencer stehen auch finanziell private oder öffentliche kirchliche Institutionen.
Erfahrungen teilen und Deutungen anbieten
Viele junge evangelische Pfarrer*innen teilen ihren Alltag auf Instagram, lassen ihre Follower teilhaben an ihrem Gemeindeleben, sprechen über Herausforderungen, Zweifel und die Freude an ihrem Beruf. Auch junge Lehrer reden, zum Beispiel in Podcasts, offen über Themen und Fragen, die junge Menschen heute bewegen. Sie schildern ihre eigenen Erfahrungen, zum Beispiel mit der dauernden Aufmerksamkeit für Social Media.
Sie sprechen über Leistungsdruck im Alltag, sagen, dass sie nicht die richtige Lösung oder die Antwort auf alle Fragen haben, sondern, dass auch sie auf der Suche sind, teilen ihre Erfahrungen und Strategien, aber verabsolutieren weder Jesus, Bibel noch das eigene Selbst als Allround-Lösung für komplexe Fragen.
Sie bieten spirituell, religiöse, christliche Deutungen für Alltagserfahrungen an. Manche betrachten Social Media als Selbsthilfegruppe, wünschen sich, dass diese Medien mehr dafür genutzt würden, sich auszutauschen über die Probleme des Lebens. Sie wollen nicht den Eindruck vermitteln, sie selbst seien besonders belastbar oder stark, nur weil sie ein geistliches Fundament haben.
Angesichts der vielschichtigen Herausforderungen im Alltag der globalisierten, digitalisierten und nach wie vor neoliberal-kapitalistischen Welt haben die verschiedenen Antworten auf die Sinnfrage in den Social Media alle ihre Berechtigung. Ich persönlich habe allerdings Schwierigkeiten damit, dass ich mich ständig selbst verbessern, im Grunde mein eigener Gott sein soll. In der kleinen Zeit für die spirituelle, sinnerfüllende Dimension meines Lebens wäre ich gerne frei von dem Druck, alles selbst schaffen zu müssen. Ich möchte auch negative Gefühle haben dürfen, üben, diese auszuhalten, mich als schwach erleben, mit anderen oder mit Gott teilen können. Ich erlebe mich im Alltag oft so, dass ich alles selbst machen muss, wenig abgeben kann, mich nicht traue, loszulassen. So möchte ich nicht auch noch meine Spiritualität leben müssen.
Selbsterlösung oder Transzendenz
Dass jeder für sich selbst verantwortlich sei, gehört zur neoliberalen Ideologie, und zeigt sich auch in der Antwort vieler Social Media-Akteure auf die Frage nach Sinn und Bedeutung: Es geht um mich. Ich stelle mich dar. Sollten die spirituellen Influencer*innen das nachmachen? Selbst etwas schaffen, etwas leisten, kann ja sehr befriedigend sein, Erfolg haben, meine Grenzen überwinden. Ich transzendiere mich selbst, bleibe aber letztlich doch bei mir selbst. Ich übersteige mich selbst aus eigener Kraft. Aus meiner theologischen Perspektive hat das den Geschmack von Selbsterlösung. Das wäre mir persönlich zu anstrengend.
Gleichzeitig finde ich es schwierig, alle Antworten in der Bibel finden zu können, dass nur und ausschließlich die völlige Hingabe zu Gott mich glücklich machen könne. Grundsätzlich bin ich bei Anbietern vorsichtig, die Sinn, Bedeutung, ein glückliches Leben einfach versprechen, gewissermaßen als einen Heilsautomatismus: Wenn Du dieses und jenes tust, wirst du glücklich und zufrieden.
Sympathisch sind mir die Ansätze, die eine klare inhaltliche Prägung haben, geistliche Deutungen anbieten, diese aber nicht verabsolutieren. Junge Leute, die ihre Alltagserfahrungen ins Spirituelle erweitern und neben Glück, Zufriedenheit und Erfolg auch darüber sprechen, dass Schwäche und Traurigkeit, Zweifel und Ungenügen zum Leben dazugehören. Dass der Austausch und die Offenheit darüber manchmal sinnvoller sein können als Selbstoptimierung oder ein Bibelzitat.
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