Der Tod braucht ein anderes Ufer; Foto: hinsehen.net E.B.

Was rechtfertigt den Tod der Soldaten?

In der Ukraine sterben Viele, weil sie und die meisten ihrer Mitbürger sich nicht dem russischen System unterwerfen wollen. In den Kartagen geht es auch um den Tod eines Gerechten. Wie können wir damit leben, dass lebenswürdige Verhältnisse den Tod von Menschen erfordern?

Hätte die ukrainische Regierung eine Kapitulation unterzeichnet, würde weder geschossen noch gebombt. Sie verteidigen ihre Vorstellung von Staat, Meinungsfreiheit, Rechtsstaatlichkeit sowie die Überwindung der Korruption und anderer sowjetischer Erbstücke. Gleiches erinnern die Christen an den Kartagen. Jesus wurde zum Tode verurteilt, weil er nicht eingelenkt hat. So wie es damals keinen Grund gab, den Prediger, der seine Anhänger nicht bewaffnete, umzubringen, so auch nicht ukrainische Soldaten, die keinen Angriff auf Russland planten. Bei Jesus erklärt sogar der römische Gouverneur in seiner richterlichen Vollmacht, er fände an ihm nichts, was ein Todesurteil rechtfertige. Es ist das Böse, das den Tod der Opfer will.

Auch Russland folgt einer Idee

Die Ukrainer wollen nicht ihren Machtbereich ausdehnen, kein Territorium wegen der dort liegenden Rohstoffe erobern noch ihre Waren dem russischen Markt aufzwingen. Sie verteidigen ihre Form zu leben. Russland folgt auch einer Idee, nämlich mit der Annexion seine Bedeutung zu steigern, um nicht weiter als Großmacht nur 2. Klasse wahrgenommen zu werden. Es ist eine geistige Auseinandersetzung, denn es geht nicht um Landnahme oder Bodenschätze. Man kann auch deshalb nicht von Atheismus sprechen, weil der Patriarch der russischen Kirche den Krieg als Abwehr widergöttlicher Mächte unterstützt. Was bringt der Krieg?

Der Krieg ist kein Schritt in der Evolution

Würde man den Krieg als durch Materie bestimmt verstehen, müsste er als Entwicklungsschritt in der Evolution erklärbar sein. Das macht für Russland keinen Sinn. Wenn von einer Entwicklung der Waffentechnik und der militärischen Taktik gesprochen werden kann, liegt diese auf ukrainischer Seite. Zudem verliert Russland, das sowieso einen Bevölkerungsrückgang verzeichnet, Zehntausende potentieller Väter. Es ist auch nicht erkennbar, dass Russland einer neuen Technik, einer überlegenen biologischen oder technischen Entwicklung zum Durchbruch verhilft. Die biologischen Zukunftsperspektiven Russlands verschlechtern sich vielmehr durch diesen Krieg. So interpretieren auch beide Seiten den Krieg auf der Werteebene. Russland gibt zumindest vor, die Ukraine von einer faschistischen Überfremdung und dem dekadenten Sog des Westens zu befreien. Kritische Stimmen aus Russland interpretieren den Krieg als Verteidigung des bestehenden Machtsystems, das die Vorstellungen der Ukrainer von Parlamentarismus, Rechtsstaatlichkeit, Pressefreiheit ausschalten muss. Und hier stößt Russland an seine Grenze:

Die Wertvorstellungen können nicht ihre Geltung verlieren

Wenn immer ein Mensch oder eine Nation ihre Wertvorstellungen aufgeben soll und diese Forderung mit einer Todesdrohung durchgesetzt wird, manövriert der Drohende sich und den anderen in ein Dilemma. Wenn die Drohung nicht wirkt, muss er sie umsetzen. Konkret muss Russland sein Militär einsetzen, wenn die Ukraine sich nicht der postsowjetischen Machtgruppe unterwirft. Würde es nicht angreifen, hätten es die Auseinandersetzung bereits, ohne einen Schuss abgefeuert zu haben, schon verloren. Das Dilemma des Bedrohten ist mit noch mehr Risiko besetzt. Denn hätte die Ukraine nachgegeben, hätte sie wenigstens eine gewisse Eigenständigkeit ähnlich Belarus behalten. Würde sie den Krieg verlieren, wären die Folgen gravierender. Ihr Land würde, wie schon im 18. Und 19. Jahrhundert, zu Regierungsbezirken der Russischen Föderation. Die gewisse staatliche Eigenständigkeit in der ehemaligen Sowjetunion hatte sie unter den Zaren nämlich nicht. Da war sogar ihre Sprache verboten. Rechtfertigt der Widerstand bei so einem hohen Risiko den Tod von Soldaten und Zivilisten?

Sich für das Volk opfern

Auch wenn Russland wahrscheinlich nicht als überlegener Sieger aus dem Krieg hervorgehen wird, bleibt die ethische Frage, was den Tod vieler Verteidiger rechtfertigt. Denn diese können nicht mehr die Werte genießen, die sie verteidigt haben. Gilt der Satz auch für sie, die der Hohepriester über Jesus gesagt hatte, dass "es besser für euch ist, ein Mensch sterbe für das Volk, als dass das ganze Volk verderbe“, Joh. 11.49 und Jesus auf die Fahndungsliste gesetzt wurde. In Russland wird dieses Prinzip gegen Navalny ins Feld geführt und gegen all diejenigen, die den Krieg infrage stellen. Sie zerstören die Einheit der Nation. Der ukrainische Präsident braucht auf diese Erklärung nicht zurückzugreifen. Aber er hat sein Militär in Marsch gesetzt. Vom ersten Tag der Kampfhandlungen standen die Ukrainer hinter ihren Soldaten.

Butscha und die vielen Raketen auf zivile Ziele  

Die Hinrichtung Jesu galt der Verhinderung von etwas Neuem. Liegt im Tod der ukrainischen Kämpfer ein neuer Anfang? Jesus hat ein neues Gottesverhältnis eröffnet, das die Vorstellung von Leistung und Gegenleistung überwunden hat. Er hat einen Gott verkündet, der nicht auf der tadellosen Erfüllung der Gebote besteht, sondern Barmherzigkeit vor das Prinzip Belohnung-Strafe setzt. Damit hat er das Gesetz nicht geleugnet, aber er schien es außer Kraft zu setzen. Zumindest hat er die damaligen Theologen herausgefordert, deren Kunst darin bestand, die Anwendung der göttlichen Gesetze für den Alltag umzusetzen. Eine Auseinandersetzung, die Luther wieder aufgenommen hat - die aber immer noch weiter wirkt, nämlich ob Religion nur eine Form von Disziplin ist.
Vergebung, nicht Vertrauen auf die Befolgung der Gebote, soll an erster Stelle stehen. Jesus hat diese neue Sicht Gottes mit seinem Tod bestätigt, er war stark genug, ohne Rachegefühle seine Hinrichtung hinzunehmen. Vergleichsweise verleihen die ukrainischen Soldaten der neuen Idee, eine postsowjetische Gesellschaft aufzubauen, Geltung. Diese Idee wird der russische Machtzirkel nicht mehr aus den Köpfen herausbomben können. Da er diese Idee, die die Ukraine die Kraft zur Verteidigung gibt, nicht widerlegen kann, muss er andere Gründe suchen. Die gibt es aber im russischen System nicht. Deshalb muss der Krieg mit Lügen gerechtfertigt werden. Damit ist der Krieg bereits zur moralischen und intellektuellen Niederlage Russland geworden, das damit noch den Rest an Vertrauen verlieren und jeden seiner Bürger dem Verdacht aussetzt, ein Lügner zu sein. Es wird deutlich, dass die russischen Soldaten ihr Leben für eine bereits eingetretene moralische Niederlage lassen. Rechtfertigt das schon den Tod der ukrainischen Soldaten?

Die Werte dürfen nicht von der Zeit abgerieben werden

Geld kann einen Wert nicht überzeugender machen. Es zerstört eher das, worum es in der Verteidigung gegen Russland geht, die parlamentarische Demokratie. Das bedeutet umgekehrt, dass nur ein Wert, der nicht durch den Lauf der Zeit seine Werthaltigkeit verliert, den Einsatz des Lebens rechtfertigt. Der Tod, mit dem der Soldat eine andere Wirklichkeit berührt, muss ihm die Sicherheit geben, dass er nicht wegen eines zeitlich begrenzten Vorteils sein Leben aufs Spiel setzt. Diese Überlegung zeigt den Betrug, den die Machthaber Russlands an jedem einzelnen Soldaten begehen, nämlich für einen Unwert zu kämpfen. Er kämpft damit gegen die Zukunft seines eigenen Landes.
Wenn der Tod für die Werte "ehrenhaft" sein soll, die nicht von der Zeit infrage gestellt werden, dann müssten diese in der anderen Wirklichkeit verankert sein, nämlich in der, in die der Sterbende eintritt. Platon hat die Werte als Ideen beschrieben, die der Mensch aus einer anderen Welt mitbringt. Diese andere Wirklichkeit müsste auch, wenn der Tod für einen Soldaten hinnehmbar sein soll, die Achtung der Person, der Freiheit, die Gerechtigkeit garantieren. Wenn diese Werte, für die der Soldat sein Leben aufs Spiel setzt, nur Ideen bleiben, dann wäre Verzweiflung über den Zustand des Menschen die angemessene Reaktion. Diese Verzweiflung spüren wir. Sie muss uns genommen werden, wenn wir das Sterben der jungen Ukrainer aushalten sollen.

Der Krieg stellt entscheidende Fragen

Der Krieg stellt aus sich heraus die Frage, ob er sich überhaupt lohnt. Die Hinrichtung des Unschuldigen braucht eine Antwort. Die Religion muss diese Frage beantworten. Sein Tod gewinnt nicht dadurch Sinn, dass seine Anhänger ihn rächen, so wie es seit über 30 Jahren in dem Dauerkrieg zwischen Schiiten und Sunniten im Nahen Osten praktiziert wird. Wenn den Menschen nicht das Tor zu einer anderen Wirklichkeit geöffnet wird, ist Verzweiflung die Alternative, Verzweiflung über das, was Menschen sich antun. Wenn die christliche Predigt nur das Leiden herausstellt, schürt sie Verzweiflung, das tun schon die Kriegsherren. Das Leiden darf auch nicht als Strafe vorgestellt werden. Es ist Folge des Bösen, nicht vom göttlichen Richter verhängte Vergeltung. Diese Folgen nimmt Jesus mit dem Kreuz auf seine Schultern, indem er auf die Ablehnung seiner Mission nicht mit Gewalt reagiert noch Rachegefühle schürt. Wenn sein Wort gilt "Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer", dann konnte er diese Botschaft nicht mit Gewalt in Verbindung bringen. Auch hierin haben ihn manche christlichen Epochen nicht verstanden.

Anmerkung: Im Judentum gab es bereits die Ahnung seiner Rolle, den Glauben an den einen Gott den anderen Völkern zu vermitteln, so bei Jesaja über den Gottesknecht: „Es ist zu wenig, dass du mein Knecht bist, nur um die Stämme Jakobs wieder aufzurichten und die Verschonten Israels heimzuführen. Ich mache dich zum Licht für die Völker; damit mein Heil bis an das Ende der Erde reicht.“ 49,6 Das hat Kaiphas mit der Hinrichtung Jesu verspielt.

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