Der Titel "Den Himmel zum Sprechen bringen" verspricht, die poetische Kraft religiöser Rede zu entfalten. Also wie Notre Dame entworfen wurde, wie die Matthäuspassion gebaut ist oder durch die Komposition eines Evangeliums die Biografie eines Dreißigjährigen auf den Weg zu dem Gott führt, der bereits Moses eine kultische und rechtliche Ordnung mit auf den Weg durch die Wüste gegeben hat. Der Theologe erhofft sich Hinweise, wie das 2020 möglich ist, denn da ist das Buch erschienen.
Es finden sich über die 20 Kapitel verstreut Hinweise auf die sprach- und kunstbildende Dynamik der Religionen. Jedoch widmet sich der Großteil des Textes der Organisation der Religion, dem Wirken der Religionsdiener und den oft schwer verständlichen Ausdrucksformen, so z.B. dass in Melanesien "die Zelebranten eines Festes zu Ehren der Ahnen ... bis zu 10m hohe Masken auf dem Kopf trugen." (S. 328)
Erscheinungsformen des Religiösen
Eine Fülle solcher Phänomene wird beschrieben. Die Fülle ist so groß, dass der Autor dem Einzelnen nur wenige Zeilen widmet, so in dem Kapitel, das die verschiedenen Bedeutungsfelder des Begriffes "Religion" ausbreitet, so dass u.a. eine Ordensfrau in Frankreich bis heute "la religieuse" heißt. Auf fast jeder Seite sind mehrere Erscheinungsformen des Religiösen beschrieben. Das alles nicht mit umständliche Erklärungen in komplizierten Satzkonstruktionen, sondern in Aussagesätzen geht es um das Theater, die ägyptische Religion, den Offenbarungsgedanken, die Beschreibung des Himmels, um Lob und Geduld. Es ist ein Gang wie durch ein Museum, in dem die Forscher eine Überfülle von Exponaten zusammengetragen haben, die der Autor dem Leser jeweils kurz erläutert. Zu jeder der religiösen Erscheinungsformen gibt es eine interessante Erläuterung. Drängt in den ersten Kapiteln die Erwartung neuer, interessanter Phänomene zum Weiterlesen, fühlt man sich immer mehr wie in einem Völkermuseum, in dem viele Kultgegenstände zusammengetragen sind, deren Einbettung in Lebensvollzüge nur geahnt werden kann. Was denn der Himmel, also das, woher das in der Religion Gemeinte sich zeigen soll, sein könnte, wird aus der Fülle des Materials nicht deutlicher. Das ist durch die Sprachform des Buches, die Aussagesätzen aneinanderreiht, nicht möglich. Diese klingen nach den ersten 100 Seiten nur noch wie die oft eintönige Musik aus dem Autoradio, wo jede Note betont wird, so dass die Melodie kaum herauszuhören ist.
Religion erschöpft sich nicht in ihren Ausdruckformen
Werden die unübersehbar vielen Ausdrucksformen des Religiösen nebeneinandergestellt, führt das nur zur Aufzählung und landet bei den vielen Ungereimtheiten der Religion. Genau da setzen Platon wie Gautama Buddha an, wie auch die Opferkritik der jüdischen Propheten und die Kritik Jesu an der ausufernden Kasuistik der Schriftgelehrten. Diese Religionskritik, die Jaspers mit dem Begriff "Achsenzeit" herausgehoben hat, wird von Sloterdijk eingeebnet. Die Mythenkritik der Philosophen gelangt nicht zu einem tieferen Verständnis, das die Mythen eher verstellt haben. „Metaphysisches Bedürfnis ist in Wahrheit ein Zufallsprodukt, das die Leere nach der Verdunstung des Mythenglaubens zu kompensieren hatte.“ S. 159 Wenn aber das Neue, das mit dem Begriff "Achse" herausgestellt wird, gar nicht stattgefunden hat, gehört die Religion tatsächlich ins Museum. Das Neue ist genau der springende Punkt der Achsenzeit. Diese lässt sich bereits am Bildlichen festmachen. Während die Götter in der griechischen Mythologie auf einem Berg nebenan ihre Heimstadt haben, wird das Göttliche durch die Denker und religiösen Protagonisten der Achsenzeit in ein Jenseits verlegt. Gott ist nicht mehr Teil der Welt, sondern jenseitig und doch den ganzen Kosmos durchdringend. Erst mit dieser neuen Religiosität, die zugleich Geburtsstunde der Philosophie ist, gibt es die Vorstellung von einer anderen Welt, in die die Toten aus dieser Welt erlöst werden. Vorher, auch in der jüdischen Bibel, blieben die Toten in dieser Welt. Sie wurden in ein Schattenreich geführt. Was Sloterdijk beschreibt, ist nicht das, was die Religion seit der Achsenzeit meint, nämlich die vielen Versuche, das darzustellen, was sich immer wieder dem Zugriff des Menschen entzieht. Die Achsenzeit kommt aus ihrer inneren Logik heraus zum Monotheismus, der sich allerdings nur bei den Intellektuellen durchsetzt. Erst das Christentum macht die Tieropfer obsolet. Die fränkischen Könige erkennen, dass der Eingottglaube das zu einer kontinentalen Größe gewachsenen Riesenreich zusammenhalten kann.
Beschreibt der Autor phänomenologisch die Darstellungen des Religiösen in den Epochen bis zur Aufklärung, unterlässt er es, seine Methodik auf die religiösen Phänomene der Neuzeit, vor allem der Diktaturen, anzuwenden. Zumindest haben diese Ideologien religiöse Riten wie Prozessionen, Initiationsriten, feierliche Einsetzung in ein Amt u.a. Ausdrucksformen der Religionen adaptiert. Zwar sind es Diesseitsreligionen, aber in dem Sinne religiös imprägniert, als sie die monotheistischen Religionen als Konkurrenten auszuschalten versuchten. Die fehlende Wahrnehmung für Religiositäten, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt haben, liegt wohl darin begründet, dass der Autor lieber die religiöse Verfasstheit Athens oder die Staatsreligion Roms darstellt, aber nicht die religiösen Phänomene z.B. des Sports aufblättert. Die Faszination des Fußballs liegt doch im Erleben, wenn ein Tor "gefallen" ist. Weil der Ball, nicht mehr rückholbar, in eine Endgültigkeit gelangt ist, kann er, anders als im Tennis, das befreiende Jubeln auslösen. Warum wird der Sekt nach einem Autorennen nicht getrunken, sondern, wohl als Opfer für die Siegesgöttin, ausgeschüttet?
Gänzlich aus dem Fokus der religiösen Analyse bleiben die Attentate in den verschiedenen Religionen. Das sind doch keine gezielte Beseitigung eines Machthabers, sondern Inszenierungen eines göttlichen Auftrages. Sie treffen oft Opfer, die der Zufall zum Objekt der Attentäter werden. Oder die 74 Millionen US-Amerikaner, in der festen Überzeugung Trump folgen, dass ihr Land von einer göttlichen Macht den Abkömmlingen der europäischen Immigranten und nicht den Einwanderern aus Lateinamerika oder den Abkömmlingen der Sklaven zugesprochen ist und ihr Idol deshalb die Wahl nicht verloren haben kann. Für diese Wähler „spricht doch der Himmel“ und nicht das politische Urteilsvermögen.
Ikonoklasmus – von den Religionen selbst betrieben
Die Möglichkeit, in Bildern das Göttliche darzustellen, ist immer wieder einem Ikonoklasmus zum Opfer gefallen. Die religiösen Texte sind daher zurückhaltend, direkt vom Leben und Handeln der Götter zu sprechen. Sie erzählen vorwiegend von religiösen Protagonisten und ihren Erfahrungen, Visionen, Erleuchtungen. Es bleiben bis heute die religiösen Feste mit ihren Riten. Um diese Riten einzuordnen, genügt nicht die Beschreibung. Der Ritus besteht ja nicht allein in der Handlung. Wasser, Öl, Handauflegung, Brot und Wein oder auch Tieropfer werden erst durch die Intention der beteiligten zu einem religiösen Ritus. Inwieweit das Beobachtbare der Intention Ausdruck verlegt, darüber können nur die Feiernden selbst Auskunft geben.
Religion trägt zur Konstruktion von Herrschaft bei
Sloterdijk scheint kaum Berührung mit z.B. dem Zenbuddhismus, afrikanischen oder hinduistischen Riten zu haben. Er teilt vor allem seine Lesefrüchte mit, dies im Rahmen einer politischen Religionskritik, die aufzeigt, wie Religion durch ihre Verbindung mit herrschenden Eliten und dem Einfluss der Priesterschaften das Denken nachhaltig beeinflussen konnte. Da auch die Erklärungen religiöser Texte über die Entstehung der Welt und des Menschen von den Naturwissenschaften übernommen wurden, ist Religion, so das Resumée, ihrer gesellschaftlichen und kulturellen Bezüge beraubt und nur noch „Religion“. Der Beobachtung kann man als Religionsdiener in Westeuropa nur zustimmen. Religion, so scheint seine Schlussfolgerung ist dann gar nicht mehr da. Das ist dann auch die Herausforderung des Buches. Welche Leseempfehlung folgt daraus:
Lesezeit eher für Habermas verwenden
Vergleicht man „Den Himmel zum Sprechen bringen“ mit der Philosophiegeschichte, in der Habermas das Wechselverhältnis von Religion und Philosophie im Blick hat und das unter die Frage stellt, wie nicht nur die Vernünftigkeit, sondern die Verbindlichkeit ethischer Normen begründet werden kann, bleibt er nicht im Phänomenologischen stecken. Aus dem Vergleich stellt sich überhaupt die Frage, ob Sloterdijk ein philosophisches Werk vorgelegt hat, das über die Erkenntnisse der Ethnologie und der Religionspsychologie hinausreicht. Wenn schon so viele Seiten über Athen, dann doch auch eine Einlassung, was sich mit der Philosophie 500 Jahre vor Christus ereignet hat. Deshalb gebe ich dem zweibändigen Werk des Frankfurter Philosophen den Vorrang, der in großer Prägnanz das Denken von Religionsstiftern und Philosophen vermitteln kann.
Sloterdijk wird nicht von Fragen nach Begründung geleitet. Deshalb muss man dieses Buch nicht lesen, um neue Einsichten in das Religiöse zu gewinnen. Es sei denn, man will herausgefordert werden. Das gelingt dem Autor fast mit jeder zweiten Seite. Zudem führt er die Theologie zur aktuellen Frage, was sie noch leisten sollte, wenn Naturwissenschaften einen großen Teil der Fragen beantwortet, für die Menschen früherer Generationen die religiösen Überlieferungen konsultiert haben.
Auf jeden Fall ist dem Verlag zu danken, dass er wie nirgendwo anders die Frage nach der Religion so konsequent betreibt. In das Programm gehört auch Sloterdijk.
Besprechung: Jürgen Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, 2 Bde, Suhrkamp 2020
Peter Sloterdijk, Den Himmel zum Sprechen bringen – Über Theopoesie, Berlin 2020, 352 S. € 26.-
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