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Säkulares Denken: Suche nach dem Ich

Das 21. Jahrhunderts ist gekennzeichnet durch das Ende der großen Entwürfe. Traditionen, die einst getragen haben, verblühten im vorherigen Jahrhundert. Religion und Aufklärung spielen heute keine große Rolle mehr. Stattdessen orientiert man sich an sich selbst. Eine Zeitgeistbetrachtung.

Worauf wird das Leben aufgebaut?

Der Philosoph Jean-François Lyotard sieht die Postmoderne als das Ende der großen Erzählungen, die von dem großen Entwurf der Moderne handelten, Erzählungen von der Aufklärung und die daran anschließenden Bewegungen stoßen auf Skepsis. Ähnlich verhält es sich mit Geschichten über Religion, bei denen hinzukommt, dass sie sich mitunter auf empirisch schwer fassbare Ereignisse beziehen. Emmanuel Carrère nimmt dies treffend in seinem Roman „Das Reich Gottes“ auf, indem er Nietzsches Frage wiedergibt: „wie schauerlich weht uns dies Alles, wie aus dem Grabe uralter Vergangenheit, an! Sollte man glauben, dass so Etwas noch geglaubt wird?“

Dem Glauben wird nicht mehr vertraut

Kann man es noch glauben? Das gilt nicht nur für die Religion, sondern für alles, was nicht durch persönliche Erfahrung erlebt wurde. Man geht Wege, wie den der individuellen Subjektivität. Die neue Ethik ist in gewisser Weise nicht mehr allgemeingültig, nicht an Vernunft im Sinne Kants orientiert, sondern an individuellen Bedürfnissen und an Gefühlen, die den Kern der Identität ausmachen sollen.

Die drei aktuellen Strömungen

Es scheint drei Hauptrichtungen zu geben, die für die Gesellschaft kennzeichnend sind: Hedonismus, Überlebensstrategien und Säkularhumanismus.

Die erste Hauptrichtung, also der Hedonismus, sieht im Ende der Religion eine Art Befreiung zur Lustmaximierung gegeben. Es gilt, was Brecht Galileo im gleichnamigen Theaterstück sagen lässt: „Eine neue Zeit ist angebrochen, ein großes Zeitalter, in dem zu leben eine Lust ist.“ Dies ist die Interpretation, die auch in vielen Serien, Filmen und Zeitschriften vertreten wird, vor allem in Telenovelas, Soaps und Sitcoms. Es gibt eine Art Pädagogik zum Hedonistischen, die daran glaubt, dass es eine Art optimistische Selbsterlösung durch mehr Selbstentfaltung gibt. Wichtig für diese Richtung ist auch die sexuelle Befreiung und dass aus individuellen Bedürfnissen „Rechte“ werden, da nur so die selbsterlösende Selbstverwirklichung vollends garantiert werden kann. An die Stelle einer Religion treten eigene Gefühle und Bedürfnisse.

Die Philosophen in den Zeiten des Übergangs

Die andere Richtung, in der Überlebensstrategien im Vordergrund stehen, kommt weniger von den Massenmedien her, als mehr von der Philosophie. Sie kann als eine Zwischenstufe von der angenommenen Gottlosigkeit zum neuen „Säkularhumanismus“ gesehen werden, muss sie aber nicht. Seit einiger Zeit ist diese Richtung auch medial vertreten. Als philosophische Beispiele können Nietzsche und Camus gelten. Nietzsche sieht den Gottestod für unausweichlich, ihm ist jedoch auch klar, welches Heil und welche Hoffnung damit unumkehrbar zerbrechen. Als Ausweg gilt der Übermensch, der jenseits aller Hoffnungslosigkeit das Leben bejahend besingt. Einige der heutigen populären Serien sehen in dem Gottestod vor allem die letzte Möglichkeit einer Heilsgeschichte verloren gegangen und setzen diesen neuen Zustand der Heillosigkeit kreativ um, in dem sie eine Welt voller Horror, Verzweiflung und Gefahren zeigen. Dies gewinnt Gestalt  sowohl in Zombieserien als auch in Computerspielen wie THE WALKING DEAD, RESIDENT EVIL oder THE LAST OF US.

Camus befasst sich auch mit einer Seuche. Diese ist, wie der Titel des Romans: „Die Pest“. Am Ende, nachdem die Seuche vorüber ist, steht die Bilanz der letzten Hoffnungslosigkeit:

„Dem Arzt selbst ist nämlich bewusst, dass der Pestbazillus nie stirbt und nie verschwindet, „dass er jahrzehntelang in den Möbeln und der Wäsche schlummern kann, dass er in Zimmern, Kellern, Koffern, Taschentüchern und Papieren geduldig wartet und dass vielleicht der Tag kommen würde, an dem die Pest zum Unglück und zur Belehrung der Menschen ihre Ratten wecken und zum Sterben in eine glückliche Stadt schicken würde.“

Säkularhumanismus

Camus öffnet den Weg hin zur dritten Richtung, dem so genannten „Säkularhumanismus“, denn es heißt gleichzeitig am Ende des Romans, dass der Arzt einen Bericht anfertigte, „um für diese Pestkranken Zeugnis abzulegen, damit wenigstens eine Erinnerung an die Ungerechtigkeit und Gewalt blieb, die ihnen angetan worden war, und um einfach zu sagen, was man in Plagen lernt, nämlich dass es an den Menschen mehr zu bewundern als zu verachten gibt.“

Der Säkularhumanismus ist sich darüber im Klaren, dass die letzte Tragik des Lebens nicht besiegt werden, aber, dass man – wie der Arzt in Camus‘ „Die Pest“ – dafür sorgen kann, dass es wenigstens etwas menschlicher wird. Passend dazu sagt auch Michael Schmidt-Salomon, Sprecher der säkularhumanistischen Giordano Bruno Stiftung, wir seien nur eine „zufällig entstandene affenartige Spezies auf einem Staubkorn im Weltall“, deren Existenz tragisch sei. Helfen würde uns jedoch Mitmenschlichkeit. Außerdem könne man dabei noch einen „Heidenspaß“ haben (Himmel hilf! – Woran glauben wir?, Hessischer Rundfunk ).

„Age of Authenticity“ als Ausweg?

Damit ist der Weg zur Selbstverwirklichung geebnet und ein Zeitalter herangebrochen, das der Philosoph Charles Taylor „Age of Authenticity“ nennt. In diesem Zeitalter geht es darum, dasjenige, was einen zutiefst ausmacht, innerlich herbeizusehnen und auch umzusetzen. Es ist ein recht moderner oder amerikanischer, da individualistischer Ansatz. So lassen sich auch die heutigen Phänomene wie Gender und die Anerkennung für neue Lebensmodelle und Identitäten erklären. Es geht nicht um vorgegebene biologische oder kulturelle Elemente, sondern um das, was aus den wahrgenommenen „Gefühlen des Selbst“ als tiefste Identität hervorsteigt. Das kann grundsätzlich alles sein. Kritik daran wird deshalb so hart und mit Phobie-Vorwürfen aller Couleur betitelt, weil diese Kritik als Eingriff in die Individualität und damit in die Menschenwürde des anderen gilt, die man nicht antasten darf.

Die bisherige Ethik verliert ihre Überzeugungskraft

Traditionelle Ethik, vor allem die christliche, geht primär nicht von persönlichen Empfindungen aus, sondern behauptet, dass es eine feststehende Ordnung des Seins und Sollens gebe, die mittels Vernunft und Offenbarung erkannt werden könne. Nur innerhalb derer könne Individualität und Empfindung  zu ihrem Recht kommen. Leiden an dieser Ordnung werden mit der erbsündigen Natur des Menschen erklärt. Sie hat unter anderem deshalb ihre Einsichtigkeit und Anhängerschaft verloren, weil es Zweifel gibt, ob so eine Ordnung überhaupt bestehe und erkannt werden könne. Weiter wird bezweifelt, ob eine solche Ordnung für die Praxis entscheidend sei, denn eine vorgegebene Ordnung werde dem konkreten Leben des Menschen nicht immer gerecht. Der heutige Mensch will sich nicht einer Ordnung unterwerfen, sondern erst finden, was richtig für ihn sei. Der Vorteil der traditionellen Ethik liegt auf der Hand: Es gibt klare, inhaltliche und objektive Maßstäbe. Das Recht und das Sollen sind allgemeingültig. Das gibt Sicherheit und Stabilität. Wenn Ethik auf Gefühlen basiert, ist sie nicht kognitiv entscheidbar und erkennbar. So genannter ethischer Nonkognitivismus kann zwar Aussagen die über die Wahrnehmung des eigenen Gefühls, aber keine über allgemeingültige Inhalte und rationale Wahrheiten treffen. Im Grunde genommen ist dann alles möglich, da grundsätzlich alles gefühlt werden kann. Was dann bleibt, ist nicht Vernunft, sondern Bedürfnis, Emotion, Sensibilität.

Gefühl oder Vernunft

Wie sehr der Wandel hin zu Gefühl und Bedürfnis heute entscheidend ist, erleben wir in der Werbeindustrie. Selbstverwirklichung gilt als höchstes Gut; um sich selbst verwirklichen zu können, wird in sich hineingefühlt und von außen werden durch die Werbeindustrie Bedürfnisse geweckt. Was erlöst, ist nicht mehr das Heilshandeln eines äußeren Gottes, sondern die Realisierung des Selbstgefühls. So lässt sich auch die starke Sexualfokussierung und -kommerzialisierung der heutigen Medienkultur erklären: Eins der stärksten menschlichen Bedürfnisse wird nicht um ein biologisches Zieles willen, d.h. Fortpflanzung, sondern um die damit verbundenen Lustgefühle betrieben.
Beim Beispiel Gender liegt es,auf der Hand, dass Biologie kein Wertmaßstab sein kann, sofern man nur innere Quellen des Gefühls, der Selbstwahrnehmung oder Selbstidentität gelten lässt. Wer man letztlich – auch geschlechtlich – ist, bestimmt man nach der Gendertheorie selbst durch sein Gefühl. Die heutige Medizin und Beautyindustrie verhilft zu den nötigen phänotypischen Veränderungen, falls diese gewünscht werden.

Gibt es bei all dem noch allgemeingültige, das Selbst überschreitende Maßstäbe? Kann man außer in der Selbsterlösung noch Befreiung finden? Das scheint nicht möglich. Das Ziel scheint nur das Selbst zu sein. Das Ich wird nicht mehr wie bei Martin Buber durch das Du zum Ich, sondern durch sich zum selbstverwirklichten Ich.



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