Ausschnitt Kreuzigungsgruppe, Kirche in Kues, Foto: hinsehen.net E.B.

Religion jenseits von Disziplin

Für die Katholiken veränderte sich Mitte der sechziger Jahre die religiöse Verankerung. Vorher verlangte die religiöse Praxis Disziplin, so die Teilnahme an der sonntäglichen Messe. Wer nicht teilnahm, verspielte die Chance, in den Himmel zu kommen. Heute ist das nicht mehr notwendig. Wie verankert sich Religion in der nach-disziplinären Phase? Was wäre der Advent für die Gläubigen?

Für meine Großeltern gab es noch weitere religiöse Pflichten. Bevor man die Kommunion empfangen konnte, musste man zur Beichte gehen. Dafür war der Samstagnachmittag vorgesehen. Viele Menschen gingen zur Beichte, so dass vor den Beichtstühlen oft eine Schlange Wartender stand. Vor und nach dem Essen, morgens und abends spürten die meisten eine Gebetsverpflichtung. Freitags gab es kein Fleisch, im Advent keine Süßigkeiten, Sexualität war mit großen Vorbehalten belegt. Viele Menschen haben diese Regeln und die religiösen Pflichten als lästig und als Bevormundung empfunden, andere jedoch haben mit diesen ihren Tagesablauf stabilisiert, einen Rhythmus für die Woche gelebt und die Feste gefeiert. Weil das Ausfüllen dieser religiösen Verhaltensmuster nur mit Disziplin möglich ist, brach diese Struktur des religiösen Lebens mit der Achtundsechziger Kulturrevolution ein und wird mit den letzten Rentnern, die noch in dieser Struktur aufgewachsen sind, ganz verschwinden.

Vom Zwang der Disziplin zum Leistungsdruck

Auch nach dem Kulturwandel, mit dem die bürgerliche Eltern-Gesellschaft verabschiedet wurde, blieben für die Achtundsechziger Notwendigkeiten. Fragt man mit Hegel, was die dialektische Gegenbewegung zur Abschaffung der Disziplin war, dann sind es die Ansprüche an die technischen Systeme und die Vielfalt der Dienstleistungen. Die Autos müssen weniger reparaturanfällig und weitgehend ohne Wartung durch den Halter fahrbereit sein. Andere müssen besser als über das schwerfällige Telefon erreichbar, die Züge mussten schneller fahren und das Fliegen für jeden erschwinglich werden. Weil wir nicht mehr wie frühere Generationen so viel Zeit und Sorgfalt für den Lebensaufwand einsetzen wollen, nehmen wir viel mehr Leistungen von anderen in Anspruch. Wir kochen nicht mehr ein, reparieren unsere Geräte nicht mehr selbst, fahren Bahn und Fliegen, nutzen das viel größere medizinische Spektrum an Diagnosen und Therapien, lassen uns professionell beraten, kaufen viel häufiger Kleidung und Schuhe... Das wollen wir, wie die Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft, pünktlich, in einbahnfreier Qualität, noch billiger als die Generationen vor uns und mit freundlichster Bedienung. Da wir, um Leistungen in Anspruch nehmen zu können, selbst etwas produzieren oder beruflich Abläufe sichern müssen, schlägt das Weniger an Disziplin in ein Mehr von Leistung um. Wir müssen für unseren Lebensstil mehr Aufwand betreiben als frühere Generationen und reagieren mit entsprechenden Krankheitsbildern.

Je mehr Möglichkeiten, desto anstrengender

Ausgebrannt sein ist die Reaktion auf die sich ständig nachfüllende To-Do-Liste und die dazu gehörige Handy-Bereitschaft. Immer passiert etwas, das ich registrieren muss und das mir die Entscheidung abverlangt, ob ich reagieren oder die Meldung wegdrücken kann. Diese erhöhte Aufmerksamkeitsleistung fordert uns anders als die frühere Industriearbeit. Mit Sport, Workout, Yoga, Qi Gong kehrt die Disziplin zurück und bestimmt mit der Kontrolle der Kalorienaufnahme unser Lebensgefühl. Das, verbunden mit der Vorgabe, sich als Leistungsträger immer weiter zu optimieren, ist ein neues Korsett, in das sich vor allem die Millennials, die vor 2.000 Geborenen eingespannt fühlen. Der Zwang zur Selbstoptimierung schnürt den jungen Erwachsenen die Luft ab.

Je mehr Möglichkeiten, desto weniger kann der einzelne sich verwirklichen  

Für die Achtundsechziger war die Welt durch Konventionen, unnötige Regeln, die Bestimmungsmacht der Älteren unnötig begrenzt. Viel mehr würde möglich sein, wenn man deren Regelwerk über Bord warf. Wenn man das Kirchensystem von seinen überkommenen Konventionen und unnötigen Regelungen entrümpelte, musste auch Religion viel lustvoller zu praktizieren sein. Wenn dann noch die strenge Regulierung der Sexualität abgestreift würde, müsste Kreativität freigesetzt werden. Nicht zuletzt sollte der Gottesdienst keine Pflichtübung mehr sein. Den Kindern sollte eine Zukunft ohne belastende Schuldgefühle und qualvolles Lernen bereitet werden. Voller Erwartungen starteten die Katholiken in die siebziger Jahre. Fragt man nach den Früchten, die diese neu gepflanzte, von der Disziplin befreite Religiosität gebracht hat, dann sind viele dieser Setzlinge vertrocknet. Die Kirchen haben sich geleert und mit Gott rechnet ein immer größerer Teil der Bevölkerung nicht mehr.

Keine Alternative zur Religiosität der Vor-Achtundsechziger

Wer sich zu Gottesdiensten versammelt, ist älter und wohl noch von der Intuition geprägt, Gott etwas zu schulden. Mit Hegel könnte gefragt werden, welche Idee diese Intuition abgelöst hat, man müsse sich "am Riemen reißen", wenn man sich in das Feld des Religiösen begibt. Die Idee der Achtundsechziger war, durch Abbau von Regelungen Gestaltungskräfte freizusetzen. Wenn dann noch demokratisch jedem eine Mitwirkungsmöglichkeit eröffnet wird, dann müsste eine christliche Gemeinde vor Lebendigkeit strotzen und für Außenstehende anziehend sein. "Wer mitmacht, erlebt Gemeinde" war die Verheißung. Könnte es sein, dass viel erwartet wurde, aber keine neue Idee von Religion aus dieser von Regeln befreiten Kirchlichkeit entstanden ist. Religion hat die Dimension Verheißung. Welche vermittelt die Kirche heute? Soziologen sagen, dass Religion immer gegeben sei, weil der Mensch eine Sinnbestimmung sucht und für ethisches Verhalten einen Anker braucht. Eigentlich zweifeln wenige daran, dass das Christentum eine Sinnantwort durch die Geschichte getragen hat. Sie kann aber erst nach außen anziehend wirken, wenn sie innen gelebt wird. Diese Osmose zwischen gesellschaftlichen Tiefenströmungen und Vertiefung der christlichen Botschaft scheint in Westeuropa gestört.

Die Freiheit weiter denken

Von einem philosophischen Ansatz her wäre die Freiheit zu befragen. Es war die Zielperspektive der Achtundsechziger. Sie endete bei Hegel nicht im Leistungsdruck, sondern in dem Gedanken, Freiheit sei die Einsicht in das Notwendige. Corona hat diese Fragestellung wieder nach oben gespült. Jedoch um frei zu sein, muss die Freiheit erst einmal zu sich befreit werden. Da sind die Querdenker die Enkel der Achtundsechziger. Sie bleiben im Protest gegen Einschränkungen der Freiheit stecken. Das genügte für die frühen siebziger Jahre. Inzwischen muss die Freiheit mit der Überfülle der Möglichkeiten fertig werden und wird nicht mehr als eingeengt, sondern als Überforderung erlebt. Da ich in der jetzigen gesellschaftlichen Entwicklungsstufe allein dafür verantwortlich bin, was aus mir wird, fällt die Freiheit wie eine schwere Last auf mich. Das zieht sofort die Frage nach sich, für was ich eigentlich da bin. Denn die Freiheit braucht, um mich zu einer Person zu formen, ein Sinnangebot. In weiteren Beiträgen auf hinsehen.net wird dazu eine Antwort gesucht. Eine Antwort könnte sein, dass wir mit unseren Aufgaben Person werden, indem wir für andere unsere Begabungen einsetzen und so Verantwortung übernehmen.

Die Erkundung des Horizonts, was sich als neue Religiosität abzeichnet, kann bei dem Angebot beginnen, das die Postmoderne ihren Bewohnern macht. Reicht aber der Naturalismus, der auf den Natuwissenschaften sich stützende Materialismus überhaupt, um den Klimakollaps und andere Einbrüche abzuwenden? Dazu folgt in Kürze ein Beitrag.

Die Befindlichkeit und die Sehnsucht jungen Erwachsenen haben Matthias A. Schmidt u.a. ausgelotet. Weitere junge Autoren und Autorinnen von publicatio e.V. setzen die Reihe fort:  Millennials – die Generation Y verstehen


Kategorie: Analysiert

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