Foto: Phillip Kofler bei Pixabay

Fußballgeschichte: das Endspiel Niederlande- Deutschland vor 50 Jahren

23 Minuten – ein Rückblick von Uli Spreitzer. Nur 23 Minuten lang stand es 1:0 für die Niederlande im Endspiel der WM vor 50 Jahren. Österreich hatte vorher den Stil geprägt. Ein Rückpass machte Fußballgeschichte.

23 Minuten. Relativ kurz. In meiner Kindheit als Ministrant dauerte solange eine Frühmesse oder eine Werktagsmesse unter der Woche, wenn der Pfarrer wirklich aufs Tempo drückte. Manche 23 Minuten dauert eine Folge eines bestimmten Formats von Fernsehserien. 23 hätte als Quersumme 5, von dort aus käme man zur Wurzel aus fünf und dann zu den Fibonacci-Zahlen mit einem Verweis auf das Pentagramm, den goldenen Schnitt. Alles Themen, die die Lehrpläne des hessischen Kultusministeriums und nicht nur dieses Ministeriums aussortieren. Vernetzung des Wissens auch von Kulturphänomene ist nur ein Wort in irgendwelchen Lehrplänen. Dafür findet man es bei den Waldorfschulen oder bei Dan Brown und seinem Werk wie Sakrileg. So wäre mit 23 der Einstieg in diese Parallelwelten bewerkstelligt. Begeben wir uns in die 23 Minuten Fußballgeschichte.

Der leider schon verstorbene Schriftsteller Péter Esterházy de Galántha schrieb immer davon, dass er oder die Ungarn in einer Welt denken oder leben, in der Ungarn und nicht Deutschland die WM 54 gewonnen hätte. Also eher eine Selbsttäuschung Ungarns oder ein Leben in einem Paralleluniversum. Dummerweise leitete er daraus eine Ursache für die späteren Ereignisse Ungarns im Ostblock ab. Man sieht, auch hervorragende Schriftsteller sind nicht vor der Dummheit billiger Moralisierung gewappnet. In Wien sah ich am alten Westbahnhof eine E-Lokomotive der ungarischen Eisenbahnen mit der Mannschaft von 54 aufgedruckt. Das war vor 10 Jahren. Heute findet sich das Foto leider nicht mehr. Puskás, Hidegkuti, Czibor oder der später in der Bundeliga als Trainer agierende Gyula Lóránt waren darauf abgebildet. Die ungarische Bahn ehrt ihre Helden. Die österreichische wie die deutsche nicht, sonst gäbe es wahrscheinlich längst einen ICE benannt nach dem besten Stürmer der Zwischenkriegszeit, Matthias Sindelar – wer ist schon Messi dagegen?

Selbsttäuschungen sind manchmal dann doch keine, denn der Sieg Deutschlands 1954 in dem Spiel entstand mit etwas Wohlwollen des englischen Schiedsrichters – zumindest beim ersten Tor durch Max Morlock und einem nicht gegebenen Ausgleich zum 3:3.

20 Jahre fand ein noch weit epischeres Fußballspiel statt, auch als WM-Finale. Mit Sicherheit das fundamentalste Finale aller Weltmeisterschaften. Der Kampf zwischen Gut und Böse, zwischen Fußball-Total und kick and rush. Deutschland spielte oft kick and rush, im Gegensatz zum FC Bayern München, der eher jüdisch-wienerisch „scheiberlte“, wie es Sindelar für Österreich nicht nur während des durch das faschistische Italien übelst verschobene Halbfinale tat. Erstaunlich, dass Marcel Reif kürzlich den Begriff für das Kurzpassspiel nicht kannte. Also kick and rush vor an die Grundlinie meist über außen und dann nach den Regeln des Fußballs, welche bei Rückpass keine Abseits kennt (wie auch Rugby u andere), zurück an den Stürmer im Strafraum. Ein Kampf zwischen modern und konservativ. Neben dem Muster, unter dem es gelesen wurde, sind viele, viele davon sind umstritten. Unumstritten ist, niemals zuvor und in diesem Äon sicher auch nie mehr danach, waren die Kapitäne der beiden Mannschaften solche Titanen des Fußballs wie Johan Cruyff und Franz Beckenbauer. Wieder leitete es ein englischer Schiedsrichter, Jack Taylor, ein Metzgerssohn aus Wolverhampton.

23 wären die 23 Minuten, in denen die Niederlande in dem damaligen Spiel führten. Eine Regel in Hollywood lautet: Beginne mit einem Erdbeben und dann steigere dich langsam. Daran hielt sich das Spiel. Mit einem Antritt von Johann Cruyff, der Berti Vogts entkam, einem Foul durch Uli Hoeneß – knapp vor der Strafraumgrenze, einem Penalty und dem 0:1 durch Johan Neeskens. Johan Neeskens, einer, der gar nicht so vielen Spieler internationaler Klasse der Niederlande, stilbildend und ein Bild meiner Kindheit ob seiner markanten Koteletten und mit Schusskraft gesegnet, hämmerte den Ball in die Mitte des Tores. Der aufsteigende Kreidestaub gehört zum ikonischen Bild dieses Tores  

Die Welt war endgültig auf der Welle des Fortschritts. Die Endzeit oder was auch immer das Feuilleton darunter verstand, hatte begonnen. Dass die Niederlande gar nicht als Favorit ins Turnier gingen und dass der Fußball total bereits 1970 mit Feyenoord Rotterdam und unter dem österreichischen Trainer Ernst Happel entstand, konnte man getrost ausblenden. In der Welt des Feuilletons oder auch mancher Fußball-Zeitschrift war es eine Erfindung von Ajax Amsterdam, Johan Cruyff und Rinus Michels in 1971 bis 73 – wobei Jack Taylor dann doch das Finale 71 im Pokal der Landesmeister leitete, das Ajax gewann

23 Minuten hielt das erste Tor. Dann trat Jack Taylor nochmals in Erscheinung und gab den zweiten unberechtigten Elfmeter. Bernd Hölzenbein agierte zuvor ähnlich wie später Diego Maradona, jetzt nicht als Hand, sondern eher als Bein Gottes, und fiel begnadet über das Bein des Spielers Jansen. Paul Breitner glich aus. Johan Cruyff vergab eine weitere Großchance und gegen Ende der ersten Halbzeit gelang Deutschland noch das 2:1. Ein kunstvolles Tor des weltbesten Stürmers Gerd Müller auf exzellente Vorarbeit von Rainer Bonhof.

Mit 2:1 endete das Spiel. Der Fortschritt hatte verloren gegen die Kräfte der Restauration. So las man es Jahrzehnte lang oder in Verweisen in irgendwelchen Filmen.

Zeitgenössische Kritiken wie in der gazetta dello sport lassen aufhorchen. Viele Spieler der Niederlande erhielten schlechte Noten. Die besten erhielten Spieler wie Bonhof oder Breitner; ersterer ein sehr junger Spieler der gar nicht als Protagonist vorgesehen war.

War diese Generation der Niederlande nicht längst über ihrem Zenit? War der nicht Anfang der Sieziger? Damals war deren Nationalverband aber unfähig, die Spieler für Länderspiele abzusichern, so dass sie bei der WM 70 und der EM 72 außen vor waren. Galt nicht gleiches für Deutschland – das erste großartige Team Borussia Mönchengladbachs war schon in Auflösung - nur hatte man beim Team Deutschlands junge Weltklassespieler wie Bonhof oder Breitner, die man der Mannschaft zuführte und die den Unterschied machten. Ernsthafte Fachzeitungen wie die Gazetta zeugen davon.

Ist das Endspiel 74, wenn wir es uns in Erinnerung führen, die Relecture eines Kampfes, der nie stattgefunden hat, da zur eigentlichen Zeit der frühen siebziger ein Beteiligter nicht anwesend war: Die Kanzlerschaft von Willy Brandt zerbrach kurz vor der so sehnsüchtig erwarteten WM und statt ihm kam Helmut Schmidt. Und Egon Bahr, Willy Brand und andere strickten eine Legende um den Verrat durch Herbert Wehner. Man könnte auch gnädiger sein. Das würde bedeuten, dass ein solches Relecture nur virtuell für eine kurze Zeit, also 23 Minuten hält. Vielleicht auch nicht. Vielleicht hatten wirklich die Besseren verloren. Aber man kann sich in diesen 23 Minuten gerne einklinken und verweilen.

Was bleibt, ist eine ikonische Ästhetik dieser Begegnung. Die Ästhetik dieser frühen Siebziger funktioniert immer noch und zwar global. Vielleicht transportiert diese etwas, was die Realität nie liefern konnte


Kategorie: Entdecken

Kommentare (0)

Keine Kommentare gefunden!

Neuen Kommentar schreiben

Zum Seitenanfang