Freiheit ist die Brücke zu meinem Leben; Foto: hinsehen.net E.B.

Freier ist, wer bei seiner Entscheidung bleiben kann

Frei, so gilt es weithin, ist derjenige, der Nein sagen kann. Auch zu dem, was er zugesagt hat. Das gilt auch für die eigene Person. Ich kann zu dem, was ich mir vorgenommen habe, Nein sagen und mich gut fühlen. Aber ist dann der freier, der keine Maske trägt?

Das Gefühl gibt mir tatsächlich recht. Das Wetter ist so uselig, dass ich mir das Walken sparen kann. Oder: Ich sollte jemand anrufen. Ich erwarte kein angenehmes Gespräch und entscheide, diese Anruf einfach von meiner To-Do-Liste zu streichen. Für ein schwieriges Projekt wollte ich jemanden um seine Expertise bitten. Vielleicht bekomme ich eine Abfuhr und lege das Telefon wieder beiseite. So werde ich den Druck los. Ich stelle erleichtert fest, dass ich mir gar nicht den Druck hätte machen müssen.
Bald allerdings hat sich das Gefühl der Erleichterung verabschiedet. Meine Laune wäre besser, wenn ich trotz des miesen Wetters walken gegangen wäre. Das ungute Gefühl, das ich vor dem Anruf gehabt hatte, kehrt wieder zurück. Und mich hätte schon interessiert, was die Expertin zu meinem Projekt geraten hätte. Und ist es wirklich so mutig, mich den bösen Blicken anderer auszusetzen, weil ich "gegen den Trend" keine Maske aufsetze?

Freiheit macht Druck

Aber ich musste eigentlich nicht. Niemand hat mich zum Walken bei schlechtem Wetter verpflichtet. Der andere will doch gar nicht angerufen werden. Und die Expertin ist so beschäftigt, so dass sie um jeden froh ist, der sie in Ruhe arbeiten lässt. Das Nachdenken bestätigt mich: Ich muss tatsächlich nicht. Keiner zwingt mich, nur ich selber. Was wäre dann das „Muss“ der Freiheit? Gibt es etwas das mich zwingt, doch zu walken, mir doch den Rat der Expertin einzuholen. Es gibt dieses Muss der Freiheit, nämlich dass ich entscheiden muss. Solange Zeit vor mir liegt, muss ich mein Leben in ihr verwirklichen. Was ich mit meiner Zeit anfange, liegt bei mir. Je mehr ich mich entscheide und je weniger ich anderen die Möglichkeit gebe, über mein Leben zu bestimmen, desto mehr wird es mein Leben. Aber ich kann doch immer noch umsatteln – ein anderes Studium wählen, eine andere Partnerschaft, auswandern oder aussteigen. Das verspricht erst mal neuen Freiraum, aber auch mehr Freiheit? Die vielen Möglichkeiten, die wir uns geschaffen haben, legen nahe, mal zu wechseln, sich neu auszuprobieren, um das Leben tiefer auszuschöpfen. Liegt das in der Logik der Freiheit?

Das verwirklichen, was ich mir vorgenommen habe

Wenn ich mich frei für eine Ausbildung, einen Hausbau, für Kinder, für ein größeres Projekt entschieden habe, dann braucht es meine ganze Konzentration und Hingabe, damit es etwas wird. Breche ich ab, bleibt oft nur ein Torso. Das Projekt „Impfstoff gegen Corona“ erfordert, dass es zur Genehmigung durch die Arzneimittelbehörde kommt. Im Entwicklungsprozess geraten die Forscher immer wieder in Sackgassen. Deshalb die Entwicklung des Impfstoffes aber einzustellen, wie das bei Sars 1 geschehen ist, macht keinen Sinn. Hätte es diesen Impfstoffgegeben, wären wir viellicht noch schneller zu einer Antwort auf das Virus gekommen. Es baut ja auch kaum jemand das Haus bis zum 1. Stock und hört dann auf. Die eigene Entscheidung zwingt mich, die Schritte bis zum Ende zu gehen. Es gibt das „Muss“, über mein Leben zu entscheiden. Ich werde mir in meiner freien Entscheidung dann mehr gerecht, wenn ich das auch realisiere, was ich mir vorgenommen habe, als wenn ich mitten drin abbreche. Ich bin es ja selbst, der es gewollt hat. Die Konsequenz, bei einem Projekt nicht aufzugebne, wenn ich in einer Sackgasse gelandet bin oder den teurer gewordenen Bau mit einer höheren Kreditsumme fertigzustellen und die vielen anderen Zwänge, in die mich meine freie Entscheidung führt, können mich verführen, dass ich abbreche. Ich werde mit meiner Entscheidung, in den Monaten meines Lebens etwas zu verwirklichen, selbst zum Muss. Wenn ich eine Entscheidung umwerfe, dann rebelliere ich eigentlich gegen mich selbst. Meist wird mir erst in späteren Jahren klar, ob es richtig war, umzusatteln, den Arbeitsplatz zu wechseln, eine neue Beziehung einzugehen.

Bleiben oder wechseln

Wenn ich mich für etwas entscheide, auf das ich im Alter wohlwollend zurückblicken kann, wenn ich dann auch das zustande bringe, was ich mir vorgenommen habe, werde ich meiner Freiheit mehr gerecht als wenn ich abbreche. Kann ich das mit mir selbst ausmachen, wird mein Leben zu meinem Projekt, nämlich das, was ich mit meinem Engagement aus mir machen will. Schwieriger ist eine Entscheidung, wenn ich abgeworben werde. Beruflich ist dann meine Kompetenz gefragt. Eine größere Verantwortung zu übernehmen, beinhaltet meist ein Mehr an Freiheit. Wenn ich allerdings ein höheres Gehalt mit der Einschränkung meiner Freiheit „bezahlen“ muss, sollte ich mich für Freiheit entscheiden.
Das wird sehr viel komplizierter, wenn es um meine Attraktivität geht und mir ein anderer Mensch eine interessantere, lebendigere Partnerschaft verspricht. Da scheint alles für einen Neuanfang zu sprechen. Wenn man die Entwicklung der Personen in einer solchen neuen Partnerschaft einige Jahre später betrachtet, dann haben sich meist die Erwartungen nicht erfüllt. Nicht nur bleibt bei jedem etwas aus der früheren Partnerschaft „hängen“. Die Mühen der Ebene müssen ausgehalten und durch eine Vertiefung der Beziehung überwunden werden. Das hätte auch die aufgegene Partnerschaft gebraucht. Ingmar Bergmann hat in „Szenen einer Ehe“ dargestellt, was viele erlebdn, die sich getrennt haben, und immer noch erleben.

Konflikte legen einen Wechsel nahe

Abbrechen, wechseln, irgendwo anders neu anfangen, hängt oft mit Konflikten zusammen, die immer drückender geworden sind. Jutta Mügge arbeitet an einer Artikelreihe, auf die hier verwiesen wird.
In diesem Beitrag sind noch die oben beschriebenen kleinen Entscheidungen in ihrer Konsequenz abzuschätzen:
Heute nicht walken zu gehen oder jemanden doch nicht anzurufen, stellen den Kurs meines Lebensschiffes nicht infrage. Erst wenn ich sie in Beziehung zu dem Größeren, was ich mir vorgenommen habe, setze, wird klarer, für was ich mich entscheide:     
Beim Walken geht es mir nachher besser, ich habe Energie gewonnen und kann das entschiedener, oft auch mit mehr Freude umsetzen, was ich mir vorgenommen habe.
Anrufe zu tätigen, wird in Beziehung auf mein Ziel naheliegender. Mit dem unangenehmen Telefonat tue ich von meiner Seite etwas, um Schwierigkeiten aus dem Weg zu räumen. Mir Expertise zu besorgen, kann mein Projekt nur besser machen.
Und die Maske: Wenn ich für meine Gesundheit sorge, geht mir nicht Lebenszeit verloren und ich werde in meiner Leistungsfähigkeit nicht beeinträchtigt. Andere nicht anzustecken liegt in der Linie meiner Freiheit. Denn was würde es in meinem Leben befördern, wenn andere von mir angesteckt werden?

Meine Freiheit entscheidet sich nicht daran, ob ich keine Maske trage. Es geht in der Freiheit um das Ganze meines Lebens. Das, was mein Leben langfristig bestimmt, ist Thema der Freiheit. Ob Maske, Walken, jemanden anrufen gewinnt dann seinen Stellenwert, wenn ich es auf das beziehe, was ich in meinem Leben vorhabe. Dann werde ich wahrscheinlich mich aufraffen und mich zum Walken umziehen.
Mehr Entscheidungskraft ist von mir verlangt, wenn ich mich an Konflikte wage. Dazu sind bereits zwei Beiträge von Jutta Mügge online gestellt:

Zum Missbrauch: Verschulden braucht Entschuldigung
Zu Corona: Unbearbeitete Konflikte münden in Krisen


Kategorie: Analysiert

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