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Das ungeregelte Individuum

Bis in die 1970er Jahre galten Beziehungen als endgültig. Man war mit bestimmten Menschen verbunden und konnte nicht überleben, wenn man aus diesem Beziehungsgeflecht ausgestoßen wurde. Oder man blieb außen vor. Die Achtundsechziger gaben diese Sicherheit auf. Die neue Lebensform nennen wir Individualismus. Diese neue Beziehungsstruktur ohne verbindliche Regeln braucht die ständige Steuerung durch Instagram, WhatsApp & Co.

Beziehungen waren vorher schon fragil, Netze sind zerrissen, Revolutionen und Kriege haben viel zerstört. Jedoch hielt die Gesellschaft auch noch nach dem Zweiten Weltkrieg an dem Prinzip fest, dass Beziehungen auf Dauer angelegt sind. Deshalb wurden diejenigen geächtet, die Beziehungen auflösten oder gar zerstörten. Man blieb lebenslang im Konzern, im religiösen Orden, in der Gewerkschaft, in der Partei. Ehebruch unterlag dem Strafgesetz. Jedes dieser Beziehungsnetze hatte sich ein Regelwerk gegeben. Wenn man sich an diese Regeln hielt, dann – so das Versprechen – würde das Netz einen durch das Leben tragen. Entscheidend war der familiäre Zusammenhalt. Das erklärt nicht nur die strafrechtliche Ahndung des Ehebruchs, sondern auch die gesetzliche Regelung, dass der Mann einer Berufstätigkeit der Frau zustimmen musste. War doch die Ehefrau auf dem Bauernhof oder in der Bäckerei wie in anderen Betrieben für den Kontakt mit den Kunden unentbehrlich. Das ist für muslimischen Familien immer noch eine, auch von den Frauen, anerkannte Regel.

Geregelte Lebensformen

Ordensleben bedeutete in diesem Verständnis, sich in das von der jeweiligen Ordensregel geordnete Leben einzupassen, indem man die Regeln übernahm. „Ordo“ heißt ja geregelte Lebensweise. In katholischen Gegenden wurde diese Gesellschaftsstruktur durch die Vereine gestützt. So wurden im katholischen Oberschwaben die Frauen mit der Heirat Mitglied des Katholischen Frauenbundes. Im Ruhrgebiet war die Mitgliedschaft in der Gewerkschaft in gleicher Weise mit dem Eintritt in ein Arbeitsverhältnis gegeben. Es war auch keine Frage, wo man das Kreuz auf dem Wahlzettel machte.
Dieser kurze Rückblick zeigt, wie tiefgehend die Transformation der Gesellschaft war, die Achtundsechziger-Bewegung benannt wird. Diese Transformation hat auch das soziale Gefüge, das die Katholiken über Jahrzehnte aufgebaut hatten, zum Auslaufmodell gemacht. Es wird mit viel Geld und vielen Hauptamtlichen aufrechterhalten, hat aber ein absehbares Auslaufen seiner Lebensdauer.

Mehr Lebendigkeit und Kreativität wurde versprochen

Als die Achtundsechziger das oben beschriebene Gesellschaftskonstrukt abschafften, weckte das Ängste, die dann durch die Attentate der Baader-Meinhof Gruppe weitere Nahrung erhielten. Diejenigen, die das alte Modell nicht aufgeben wollten, waren plötzlich in die Defensive geraten, waren sie kurz vorher noch diejenigen, die über die Regeln wachten. Die Achtundsechziger konnten den von ihnen konzipierten Umbau der Gesellschaft voranbringen, indem sie eine von der Last der Regeln befreite Gesellschaft versprachen, die aus der Kreativität ihrer soziologisch geschulten Mitglieder ein viel bunteres und erfüllteres Leben zustande bringen würde. Wenn die Energien einer befreiten Sexualität in die Gesellschaft fließen würden, würden diese Energien die Revolution bewirken, so hatte es Wilhelm Reich, ein Schüler Freuds, vorgezeichnet. Da die Energien, die die Eltern noch aus der Religion schöpften, mit der sexuellen Revolution nicht mehr gebraucht wurden, konnte man sich auch aus diesem Grund von der Religion verabschieden. Da die Kirchen sich als Garanten der bisherigen Regelsysteme positioniert hatten, mussten sie auch aus diesem Grunde zum Auslaufmodell erklärt werden.

Die Außenseiter können mehr in die Gesellschaft rücken

Die auf dauerhafte Zugehörigkeit gebaute Gesellschaft hatte für diejenigen keinen Platz, die nicht in das Schema einer der vorgegebenen Lebensformen passten. Das waren die nicht heterosexuell Orientierten, die Frauen, die außerhalb der Ehe ein Kind erwarteten, behinderte, obdachlose Menschen. Für die Ledigen gab es einen Platz. Für einige Berufe galt sogar das Gebot der Ehelosigkeit, so für Krankenschwestern. Vor dem Krieg mussten Lehrerinnen den Schuldienst aufgeben, wenn sie heirateten. Mit der Auflösung der Regelsysteme konnten diejenigen, die vorher in kein Schema passten, mehr in die Gesellschaft rücken. Diese Integrationsbemühungen konnten dann in die Diskussion gebracht werden, weil sie die Entmachtung der Regelsysteme rechtfertigten, denn diese als starr empfundenen Strukturen hatten die Integration verhindert. Die Integration der verschiedenen Außenseiter-Gruppen dient bis heute als Rechtfertigung für den radikalen Umbau des die Gesellschaft tragenden Gebälks. Erstaunlicherweise wurde die vom Staat geschützte Ehe in den 70er Jahren auch als ein Gehäuse von Zwängen hingestellt, war sie doch früher der geschützte Raum für das Individuum. Die Fernsehspiele und Kinofilme der siebziger Jahre zeigten eher diejenigen als Protagonistinnen, die sich trauten, das Zwangsgehäuse „Ehe“ zu verlassen. Es waren in der Mehrheit Frauen, die eine Scheidung als Befreiung sahen. Deshalb wurde es üblich, unverheiratet zusammenzuziehen, um die Beziehung ohne formelle Scheidung wieder auflösen zu können.
Durch den technischen Wandel und noch mehr durch die Usancen der New Economy wurde der Wechsel des Arbeitgebers zum Schlüssel für einen schnelleren Aufstieg. Ein Faktor, der das beschleunigte, war der Besitzerwechsel von Firmen, der Verkauf von Firmenteilen, die zu neuen Konglomeraten verknüpft wurden, um bald wieder weitergereicht zu werden. Die Wirtschaft forderte genau den Menschentyp, der durch die Achtundsechziger verformt worden war, der also nicht mehr du.rch zu starke Bindungen an ein vorgegebenes Regelsystem gekettet ist. So erklärte es Kurt Biedenkopf. Flexibilität war durch die „Ent-Regelung“ der verschiedenen Lebenswelten leicht leicht zu realisieren.

Gelenkter Individualismus

Achtundsechziger-Bewegung, Neoliberalismus und die technologischen Entwicklungen haben die Lebenswelt hervorgebracht, die der Millennial Matthias A. Schmidt und die Schriftstellerin Sophia Fritz beschreiben: Auf sich alleine gestellt, sich ständig orientieren müssen, um den Anschluss an die nächste Entwicklung nicht zu verlieren, das Leben als ständige Überforderung erleben.
Was als Individualismus kritisiert wird, ist doch nur die Lebensform, die die Achtundsechziger den nachwachsenden Generationen fast aufgezwungen haben, indem sie alle die „Fahrzeuge“, die einen durchs Leben kutschierten, also Ehe, Betriebszugehörigkeit, Kirchenbindung, Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft als Solidargemeinschaft mit angeschlossenem Konsum und Wohngenossenschaft „Neue Heimat“. Vereine, nicht als bloße Freizeitgestaltung, sondern für das Durchkommen durch die Fährnisse des Lebens. Man konnte sich auf die Funktionsfähigkeit dieser über längere Zeit erprobten Lebensformen verlassen. Diese sind nun endgültig zerstört und passen auch nicht mehr in eine auf Flexibilität, schnellen Wechsel, auch der Beziehungsnetze, bestimmte Lebenswelt.

Statt dauerhafte Regeln ständige Neuorientierung durch die Social Media

Was Individualismus genannt wird, ist auch nur eine Form der „Vergesellschaftung“. Dieser Begriff bringt die Philosophie der Achtundsechziger auf den Punkt: Jede*r ist Teil der Gesellschaft und wird von dieser integriert. Wenn man die Gesellschaft ändert, verbessert man die Lebensbedingungen aller, denn jede*r ist durch die Gesellschaft bestimmt, nach Marx durch die wirtschaftliche Struktur, nach Gramsci durch die Kultur. Eine befreite Gesellschaft ist so gedacht, dass jede*r einzelne die Gesellschaft mitgestalten kann. Das war z.B. das Versprechen der Achtundsechziger für die Katholiken. Lebendige Gemeinden würden aus den vorher als genormt empfundenen Pfarreien entstehen.
Es ist in einem weiteren Beitrag zu analysieren, warum die Achtundsechziger nicht dem Solidaritätsgedanken den Weg bereitet haben, sondern dem Neoliberalismus und warum nicht lebendige Gemeinden entstanden sind, sondern eine von Hauptamtlichen mühsam aufrecht erhaltene Pfarrstruktur.

Das Smartphone leitet an Stelle der Regeln

Waren die Menschen früher in die Regelsysteme eingehüllt, so heute in die Social Media. Heidegger hat diese Regelsysteme als „man hat sich zu verhalten, zu tun, zu unterlassen“ beschrieben und nennt die Einhüllung das „Man“. Da die Regeln nicht geändert wurden, brauchte man sie nur zu internalisieren und wusste, wie man sich zu verhalten hat. Im Japanischen ist das bis in die Sprache hinein geregelt. Ein Schüler spricht mit seinem Lehrer anders als der Lehrer mit ihm. In unserem Sprachraum war das Unterscheidende auf „Sie“ und „Du“ reduziert und wurde von den Achtundsechzigern auf „Du“ weiter reduziert.
Da man heute wie früher Orientierung braucht, welches Verhalten akzeptiert und welches abgelehnt wird, und sich das ständig ändert, ist die Gesellschaftsform „Individualismus“ auf die Social Media angewiesen, damit sich ihre Mitglieder orientieren können. Da man bis heute aus einem Verein oder einer Gewerkschaft nicht einfach herausgemobbt werden kann, aus einer Clique jedoch bereits, wenn man einem einzelnen nicht mehr genehm ist, muss man alle, mit denen man zusammen sein will, über den kleinen Bildschirm im Blick behalten. Das System hat ähnlich strikte Usancen für Fehlverhalten entwickelt, z.B. wie lange man warten darf, um auf eine WhatsApp zu reagieren. Bei Mails hat man etwas mehr Zeit zum Reagieren, aber nicht Tage. Auch entwickeln sich neue Regelsysteme, so für das Umweltverhalten und noch strikter für das Essverhalten. Das Shaping ist vor allem für Frauen eine sehr bestimmende Regel geworden, will man sich auf Instagram, Twitter oder TikTok zeigen.

Warum Individualismus so anstrengend ist

Jeder muss sich heute das Gefährt, mit dem er durchs Leben kutschiert, mühsam selber bauen, es immer wieder neu justieren, etwa im Rhythmus bis zum nächsten Modell des Smartphones und immer wieder einen neuen Motor bzw. eine neue Software aufspielen. Der Körper, obwohl für Laufen und Jagd konzipiert, und vor allem seine Augen, müssen das alles mitmachen. Weil es für diese selbstgebauten Gefährte keinen TÜV gibt, zerbrechen sie auch oft. Burnout ist ein solcher Bruch, nicht ausgelöst durch Viren oder Bakterien, sondern einfach Folge des gestörten Biorhythmus. Vor allem geben diese Lebens-Fahrzeuge nicht die Sicherheit, die früher mit dem Beitritt zu einer Gewerkschaft oder einem Verein, durch eine Kirche oder die Ehe als Institution gegeben waren.

Anstelle Regeln ist Geld getreten

War man früher jemand als Mitglieder Schützenbruderschaft, eines Vereins, was sich oft durch eine Unform ausdrückte, ist es heute das Geld, das noch als Wert-Aura übriggeblieben ist. Jedoch haben es Facebook u.a. nicht geschafft, dass jemand die Zahl seiner Follower wie den Dr.-Titel zu seinem Namen setzt. Zwar sind die „Freunde“ bei YouTube auch ein Zeichen für die Werthaltigkeit einer Person, sicherer und darstellbarer sind der SUV, das Haus, die Kleidung, der Urlaub, mit dem die Person ihren Wert darstellen kann.

Aus dem „Man“ heraustreten

Was Heidegger von Kierkegaard und dieser von Jesus übernommen hat, ist der Impuls, sein Leben nicht von Regeln bestimmen zu lassen, sondern diese zwar zu achten, aber zum „Einzelnen“ zu werden.

Sexualität und Partnerschaft sind von dieser „Ent-Regelung“ noch empfindlicher betroffen als die berufliche und politische Existenz. Es bedarf einer eigenen Analyse, was von den Achtundsechzigern eingeführt und was daraus geworden ist.
                                      
Beiträge von Millennial Matthias A. Schmidt auf hinsehen.net dazu lesen:

Millennials: Unendliche Freiheiten, aber keine Sicherheit

Will Gott überhaupt, dass Millennials beten?

Die Sinnfrage in Zeiten von Neoliberalismus und Social Media

Gottheit Smartphone: Als Millennial kann ich nicht ohne

Millennials – die Generation Y verstehen


Kategorie: Analysiert

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