In der Schlange stehen
Ich stehe in einer 15 Meter langen Schlange im Flur der Reha. Ich bin eine von zwanzig oder dreißig, vielleicht sogar mehr Personen, die mit Maske und Corona-Sicherheitsabstand darauf warten, pünktlich zum Essen da zu sein. Die Essenszeiten sind begrenzt, deshalb ist Pünktlichkeit angesagt. Jeden Morgen zum Frühstück, jeden Mittag zur Mittagsmahlzeit, jeden Abend zum Abendessen warte ich mit den Menschen geduldig darauf, bis sich die Schlange beginnt zu bewegen. Sobald die Türe aufgeht, kommt Bewegung in das Bild. Ich gehe wie viele andere noch mit Krücken, so dass das Tempo eher moderat bleibt. Es ist kein Ansturm auf die „Bastille“, aber dennoch kommt Spannung auf. Einige, die schon wieder richtig mobil sind, überholen links, damit sie schneller an die „Fleischtöpfe“ kommen. Es ist ein kurioses Bild. Ein bisschen unwürdig in unserer Zeit? So muss es in Hungerszeiten gewesen sein, als alles knapp war und die Sorge groß, zu kurz zu kommen. Ich kenne solche Zeiten nicht, weil ich Nachkriegskind bin. Ich fühle mich eher ein bisschen wie im Zoo, wenn die Elefanten nacheinander gemächlich aus ihren Käfigen ins Freigehege entlassen werden, oder es erinnert mich an Ferienfreizeiten, wenn wir Kinder hungrig vom Spielen zum „Essenfassen“ gerufen wurden. Wenn es da keine Ordner gegeben hätte, wäre es drunter und drüber gegangen. Auch die Schlangen an den Skiliften kommen mir in den Sinn, Da haben sich immer welche an uns vorbei gedrängelt. „Aktives Anstehen“ hieß es und wurde nachsichtig lächelnd, aber auch mit bissigen Blicken begleitet. Auch an den Kassen in den Supermärkten gibt es schon mal Drängler.
Das Buffet lockt
Ist es auf dem Flur noch einigermaßen ruhig, verändert sich die Lage, sobald das Buffet in den Blick kommt. Links an der Wand hängen zwei Desinfektionssprays mit der Aufforderung, sich die Hände vor und nach dem Essen zu desinfizieren. Ich kann es tun aber auch lassen. Viele gehen mit Blick nach vorne gerichtet achtlos daran vorbei. Corona scheint nicht für alle so gefährlich zu sein wie für mich. Inzwischen habe ich mich angesteckt und schreibe aus der Quarantäne.
Auch verringert sich mit zunehmender Nähe zum Buffet der Sicherheitsabstand. Immer näher rücken wir zusammen. Für mich ist das schon ein bisschen unangenehm, wenngleich auch ich mich ja möglichst bald am Buffet bedienen möchte. Ich schere aber aus der Reihe aus, gehe schon mal zu den Abfüllbehältern, wo ich meine Thermoskanne mit heißem Wasser auffülle. Hier ist noch Platz zum Atmen. Ich bringe meine Sachen an meinen Tisch und stelle mich wieder hinten in der Schlange an. Sie hat sich inzwischen geteilt, so dass beide Seiten des Buffets zugänglich sind. Damit entspannt sich langsam der Andrang, auch weil sich bereits einige bedient haben und an ihren Tischen sitzen. Für mich und diejenigen, die sich jetzt noch am Buffet bedienen, kann es passieren, dass die Körnerbrötchen alle sind, dass der Quarktopf oder der Korb mit Äpfeln bereits leer ist. Schade, denke ich und versuche mich zu beruhigen, denn ich will ja sowieso die Zeit hier nutzen, um abzunehmen. Alles gut. Da meckert aber auch mal jemand, weil keine Teller mehr da sind, es nur noch weiße Brötchen gibt. Gleichzeitig haben sich aber vorher manche mit den Vollkornbrötchen besonders üppig eingedeckt. Unmut entsteht. Kein Wunder, dass es den Drang gibt, möglichst bei den ersten dabei zu sein.
Überwindung der Erblast
Obwohl wir doch alle eine Erziehung und Bildung genossen haben, ich hier niemandem unterstelle, dass er nicht auch möchte, dass die anderen satt werden, steckt anscheinend etwas in uns Menschen, das wir nur durch Kultur überwinden können. Kultur verstanden als Erziehung, als Bildung, als Ästhetik, Esskultur, Tischkultur, Umgangskultur, Unternehmenskultur, mit der wir das Leben in Gemeinschaft zumindest erträglich gestalten. Es scheint aber so, dass in extremen Situationen immer mal wieder etwas in uns aus dem Ruder laufen kann. Da werden die sog. „niederen Instinkte“ aktiviert. Wenn wir „höhere“ hätten, würden die „niederen“ in Schach gehalten, damit der andere im Blick bleibt und nicht jeder sich selbst der Nächste sein muss. Denn Kultur erreicht ja, dass es nicht nur Regeln gibt, sondern sie auch von allen akzeptiert und eingehalten werden.
Organisation und sichernde Instanzen
Es geht nicht nur darum, Auswüchse in Schach zu halten, sondern soziales Verhalten zu unterstützen. Viele Situationen in unserer Gesellschaft, denen ich ausgesetzt bin, sind so gut geregelt, dass diese Untiefen, die in jedem von uns mehr oder weniger stecken, durch eine äußere Ordnungsorganisation nicht auftauchen müssen. Für den Straßenverkehr funktioniert ein solches Regelwerk hinreichend. Wenn wir uns an den Vorgaben ausrichten, die allgemeingültigen Regeln einhalten, sichern sie jedem von uns im Miteinander unsere körperliche Unversehrtheit. Es gibt eine Ordnung. Die durch Regeln gesetzte Ordnung kann durch die Straßenführung unterstützt werden. Ampeln durch einen Kreisverkehr zu ersetzen, verhindert schwere Unfälle. Denn die Autos müssen abbremsen und können nicht mit hoher Geschwindigkeit bei Rot über die Kreuzung rasen. Wo die Verkehrsordnung verletzt wird, gibt es Konsequenzen. Fehlt diese äußere Organisation, die das soziale Miteinander und damit die Gerechtigkeit stützt, kann der „Wildwuchs“ wuchern. Aber das ist noch nicht alles. Die äußere Organisation benötigt eine Instanz, die überprüft und bei Verstößen Konsequenzen setzt. Sonst verwässern sich die Vorgaben und diejenigen gewinnen das Sagen, die sich nicht an die Vorgaben halten. Sie setzen damit dann auch neue Regeln in Kraft. Anscheinend sind wir nur im begrenzten Maße in der Lage, eine Ordnung aus uns selbst herzustellen, die allen gerecht wird und die es braucht, wenn wir in „lebensbedrohende“ Situationen geraten. Nun ist der Gang zum Buffet keine lebensbedrohende Situation, aber selbst da zeigen sich Verhaltensweisen, die durch eine gute Organisation und Überprüfungen vermieden werden könnten.
Gedränge kann man problemlos durch wenige Regeln abstellen
Das Drängeln zu den Mahlzeiten könnte mit einfachen Umstellungen überflüssig gemacht werden und hätte für jeden den Vorteil, dass man ohne Stress an sein Essen kommt. So wären ein entzerrtes Buffet und die Aufsplittung der Essenszeiten leicht umzusetzen.
Da ich darauf keinen Einfluss habe, ob die Institution eine äußere Ordnung sichert, habe ich nur eine Möglichkeit nämlich die, dass ich mein Verhalten ändere. Ich gehe jetzt eine Viertel Stunde später zum Essen. Da komme ich in die entspannte Atmosphäre des Speisesaals, weil alle bereits an den Tischen sitzen. Ich muss dafür in Kauf nehmen, dass nicht mehr alles für mich da ist.
Eine Woche später:
Inzwischen bin ich nach einer Woche Reha und Corona infiziert wieder zu Hause und muss sowohl meinen Fuß ohne Physiotherapie selbst bearbeiten als auch das Virus ausheilen. Nach dem ersten Schock, der mich auch erst einmal ziemlich gestresst hat frage ich mich: Müssen wir uns deshalb in “My home is my castle“ nach Hause zurückziehen, weil draußen zu wenig darauf geachtet wird, dass Stress entsteht? Stress, der total unnötig ist und nicht dazu beiträgt, dass wir gesunden.
Neue Erkenntnisse zu Stress
Inzwischen hat die medizinische Forschung herausgefunden, dass Stress am Anfang der Ursachenkette für die meisten Zivilisationskrankheiten steht. Der Mechanismus wurde erst vor einigen Jahren entdeckt. Stress löst kaum bemerkbare aber gefährliche Entzündungen in unserem Körper aus. „silent Immflations“, die zu Herzinfarkten, Depression, Demenz, Schlaganfällen führen. Für innen entzündete Adern gibt es keine Sensoren, die uns rechtzeitig vorwarnen könnten, jedoch sind sie die Voraussetzung dafür, dass sich Cholesterin an den Aderwänden ablagert. Bei Alzheimer-Kranken wurden stressauslösende Botenstoffe entdeckt, Depression ist eine mittelbare Folge von Entzündungen. Dazu mehr Information bei hisnehen.net
Der Kopf steuert die Gesundheit
Depression abbauen: Sich bewegen und Cashewkerne
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