Der erste Blick: Überforderung und zurück zum Früher
Gut, Oberflächlichkeiten haben sich fortgesetzt. Kinder und Jugendliche spielen mehr Computerspiele als je zuvor, beängstigend mehr. Eltern, überfordert damit, ihre Kinder den ganzen Tag um sich zu haben, setzen keine Grenzen, froh darüber, dass sie irgendwie beschäftigt sind. Wozu aber hat man Kinder, wenn man sie nicht um sich herum ertragen kann?
Die Gesellschaft ruhte, das konsumistische Weltbild verschwand erst einmal aus den Köpfen, bekam es Risse über Corona-Zeiten hinaus? Man müsste es verneinen, wenn man sieht, mit wieviel Lust nach dem Lockdown die Geschäfte gestürmt wurden, die Bars, die Events. Mit wieviel aufgestauter Wut auch. Die Zwangs-Partikularisten suchten das Gemeinschaftserlebnis wieder in den alten Bahnen. Kurze Pause eingelegt und dann alles wieder so wie vorher?
Der zweite Blick: Literatur als Lebensmittel
Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht ganz. Denn da trat in den Wochen des Stillstands etwas zutage, das immer da gewesen war, das aber unsichtbar, unter tieferen Schichten verborgen dahinfloss. Da war plötzlich die Sehnsucht nach geistreichen Antworten auf unser Leben spürbar, vielleicht auch nur nach geistreicher Unterhaltung. Aber immerhin. Es bildeten sich nämlich Internetplattformen mit anspruchsvoller Literatur. Mit Lyrik vor allem, die die Schriftsteller selber vortrugen, weil die sich Videoclips mit Gedichten schnell produzieren und ins Internet stellen lassen. Lyrik, die es sonst schwer hat. Wer kauft schon Gedichtbände?
Der PEN, Deutschlands wichtigster Schriftstellerverband, hat so etwas in einer langen Lesereihe auf seiner Homepage gemacht, aber es gab auch private Gruppen, die spürten, dass es für so ein Angebot eine Nachfrage gab. „Mit Poesie durch Pandemie“, hieß eine solcher Gruppe, die moderne Lyrik anbot, selbst ein Theater wie Konstanz, das aufgrund des Lockdowns die Tore geschlossen halten musste, bot auf der Homepage Literatur an. Lesungen mit sogar langen Prosatexten.
Die Baumärkte durften geöffnet bleiben, die Buchhandlungen blieben geschlossen. Verstehe das, wer will. Ein Protest dagegen formierte ich. „Auch Literatur ist systemrelevant“, wurde argumentiert, sie ist auch ein „Lebensmittel“. Und es gab viel Zustimmung für den Protest. Bücher konnten nicht nur bei Amazon, sondern auch beim örtlichen Buchhandel bestellt werden und wurden frei Haus geliefert. Der Protest zeigte Folgen.
Die Kunstszene blieb nicht stumm
Auch andere Sparten der Kunst fanden ähnliche Wege. Der Pianist, der für einen einzigen Zuhörer spielt, der also jemand zum „Anspielen“ hat und der dann den Vortrag ins Internet stellt zum Beispiel.
Neue Formen der Kunstvermittlung im Internet wurden geboren, freilich muss noch die Frage der Bezahlung geklärt werden. Künstler brauchen auch in Nach-Corona-Zeiten Geld zum Leben.
Es war so etwas wie Nachdenklichkeit spürbar. Es war, als wenn sich wenigstens ein Teil der Bevölkerung auf eine anspruchsvolle Auseinandersetzung mit dem eigenen Leben einlassen wollte. Kunst ist dafür allemal ein gutes Medium.
Die Erfahrungen des Lockdown bleiben
Das alles wird wieder absinken in die tieferen Schichten, aus denen es aufgetaucht ist, vermute ich. Aber dennoch, es war spürbar. Und nichts, was mal war, geht endgültig verloren. Es gilt anzuknüpfen an diese Formen, es gilt anzuknüpfen an Themen, die dem Leser Orientierung bieten, die er sucht. Nicht in oberflächlicher Exotik liegt die Lösung, nicht in dem dümmlichen Kritikergeschwätz, dass jemand, der Aussagen zum Alltag trifft und somit Werte vertritt, old-fashioned sei. Alles Quatsch. Notsituationen bringen es an den Tag, es wird nach Orientierung, nach Werten gesucht. Anspruchsvolle Kunst kann das leisten.
Aber wo waren hier die Kirchen? Sie hätte doch auf breiter Front auftreten und ihre Botschaft, Ihre Wertigkeit, ihren Trost vertreten müssen. Habe ich was verpasst? Die Kunst hat versucht, Lücken zu schließen, dem Mitmenschen Antworten auf bewusste oder unbewusste Fragen zu geben. Von der Kirche habe ich wenig bis nichts gehört. Der Satz, dass wir in einer säkularen Welt leben, ist doch so falsch wie jener, dass wahre Kunst keine Werte vertreten soll. Als die Menschen die Bilder von Nine Eleven im Fernsehen sahen, sind viele in die Kirchen gelaufen. Glocken haben geläutet.
Der dümmliche Satz, dass man einfach so in den Tag hineinleben kann und soll, dass man nur im Hier und Jetzt leben sollte, ist schnell widerlegt. Das Hier und Jetzt befriedigen nicht. Wieso soll ich nur im Hier leben. Die Welt ist vielfältig, es gehört zur Würdigung der Schöpfung, dass ich sie mir ansehe und nicht an einem Ort verharre. Und das Jetzt? Schon Schiller wusste, was davon zu halten ist:
Zögernd kommt die Zukunft hergezogen
pfeilschnell ist das Jetzt verflogen
ewig still steht die Vergangenheit
Der Lockdown hat manches, was sich als zeitgemäß ausgab und doch nur oberflächliches Nichtverstehen der Welt ist, als genau das entlarvt. Gut, viele haben das nicht bemerkt. Die haben den Kopf eingezogen und auf Entwarnung gewartet, bis sie ihr altes Leben fortsetzen konnten. Einige aber auch nicht. Ich habe in dem Bereich, in dem ich mich tummle, in der Literatur genau das gespürt. Es gibt eine Sehnsucht nach Nachdenklichkeit und auch nach Werten. Mag sein, dass wieder absinkt, was zutage trat, aber es ist da. Und wir tun gut daran, genau darauf zu reagieren. Die Kunst und vielleicht sogar die Kirchen.
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