Ich sitze, verbotener Weise, auf dem Geländer der Brooklyn Bridge, die Skyline von Manhattan im Rücken. Der Inbegriff von Freiheit und Größe. Abends, dann eine von Vielen auf dem Times Square. Anonym und gleichzeitig Teil einer Stadt, deren Energie ansteckt und lebendig macht. Die Lautstärke, die Lichter und Farben machen was mit einem. Man will unterwegs sein, was erleben, jede einzelne Sekunde in dieser Stadt ausnutzen. Ein Jahr später ist das Gefühl von New York, die Grenzenlosigkeit, alles XXL, Leben rund um die Uhr, nur noch eine Erinnerung, die Lichtjahre entfernt liegt.
From Ellis Island to Isolation
Denn kein halbes Jahr später wurde meine Welt auf einmal ganz klein. Kein Abtauchen in der Menge mehr. Jetzt ging es – musste es – nur um mich gehen. Die Avenues entlang der Wolkenkratzer wichen Krankenhausfluren, aus XXL wurde ein XS Zimmer und meine Freiheit wurde durch eine sieben Meter lange bzw. kurze Infusionsleine begrenzt, die zeitweise 19 Stunden am Tag an meinem Hals angeschlossen war. Nur die Krankenhausfenster, die sich nicht öffnen ließen, erinnerten noch an New York und unser Hotelzimmer im zehnten Stock.
Als ich dann nach Monaten endlich das Krankenhaus, hoffentlich endgültig, verlassen durfte, erschien mir selbst meine 50.000 Einwohner große Heimatstadt im Sauerland wie der Big Apple. Denn endlich konnte ich mich wieder frei bewegen, selbst entscheiden, wann und wohin ich gehe. Wieder unter Menschen, Teil von etwas sein, selbst wenn es nur die Schlange an der Supermarktkasse war.
Das Immunsystem ist die neue Grenze
Die Ernüchterung folgte dann jedoch gute zwei Wochen später, als ich feststellte, dass ich im Grunde genommen gar nicht so frei und unbegrenzt war, wie es sich in der anfänglichen Euphorie anfühlte. Obwohl ich Kilometer um Kilometer spazieren ging, neue und altbekannte Routen ablief und wieder Menschen begegnete, war ich doch nicht uneingeschränkt. Es gab zwar keinen Infusionsschlauch mehr, der meinen Bewegungsradius auf sieben Meter begrenzte, dafür aber ein unsichtbares und ohnehin nicht vorhandenes Immunsystem, das mich daran hinderte, wie meine Freunde ins Büro, ins Kino, auf Partys oder einfach spontan ins Café oder Restaurant zu gehen. Während andere ihren nächsten Urlaub auf Korfu, Malta oder Bali buchen, ist für mich in diesem Jahr nicht mehr drin als eine Ferienwohnung an der Nordsee. Trotz Freiheit am besten so isoliert wie möglich bleiben.
Erinnerungen, die motivieren
Krank zu sein, ohne sich krank zu fühlen, ist ziemlich prekär: Natürlich bin ich froh und dankbar, dass es mir gut geht, ich mich fit fühle und nicht mit schwerwiegenden Nebenwirkungen zu kämpfen habe. Gleichzeitig erscheinen die teils von mir selbst auferlegten, teils von meinen Ärzten empfohlenen Grenzen übertrieben und schwer nachvollziehbar. Ich habe doch genug Power und Ausdauer, wieso darf ich dann nicht 100% Vollgas geben? An manchen Tagen verdrängt der Blick auf die Grenzen die Sicht auf die Welt, die davor liegt und die ich mir jeden Tag Stück für Stück zurückerobern möchte.
Wenn ich mir die Fotos von meinem Urlaub in New York im letzten Jahr anschaue, sehe ich heute eine andere Person. Ich trage auf den Bildern zwar die gleiche Jeans und das gleiche Shirt wie heute, erkenne aber darin nicht mehr die Person, die mir jetzt täglich im Spiegel begegnet. Und das liegt nicht nur an dem veränderten Haarschnitt. Ich schaue aber keineswegs wehmütig oder gar traurig auf meine Schnappschüsse. Ganz im Gegenteil: Die Erinnerung an die Energie, die diese Stadt im vergangenen Jahr in mir entfacht hat, ist eine Motivation, mir meine Freiheit und meine Möglichkeiten wieder ganz zurückzuholen.
Weitere Beiträge von Kerstin Barton:
Darf man für Krebs dankbar sein?
Perfect Matsch - Leukämie und ich 4
Meine Armada - Leukämie und ich 3
Es sind doch nur Haare - Leukämie und ich 2
Auf der Überholspur ausgebremst - Leukämie und ich 1
Kommentare (0)
Keine Kommentare gefunden!