Ich bin in Kiew geboren und aufgewachsen. Ich habe ein paar Lieblingsstadtteile, einige gefallen mir mehr, andere weniger. Ehrlich gesagt: Die Hauptstraße Kreschtschatik und den Hauptplatz „Platz der Unabhängigkeit“ mochte ich nie besonders. Warum, weiß ich nicht. Seit dem Winter 2014 ist für mich die Möglichkeit, diese Vorliebe zu ändern, für immer verschwunden.
Euromajdan: Revolution der Würde
Die Geschichte der Wiedergeburt der Ukraine begann im Herbst 2013 mit den Studentenprotesten, als das Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union von der ukrainischen Regierung abgelehnt wurde. Man hieß diesen Protest „Euromajdan“, später aber „Revolution der Würde“. Damals wussten wir noch nicht, zu welcher Dimension die friedlichen Aktionen heranwachsen. Zuerst nahm ich selbst die Ereignisse nicht ernst. Die Ansammlungen auf den Kiewer Straßen waren keine seltene Erscheinung, und nach ein paar Tagen beruhigte sich das Alltagsleben. Das war aber nun nicht der Fall. Nach dem 30. November, als die Studenten brutal von den Spezialeinheiten geschlagen wurden, kamen Tausende Leute auf die Straßen. Der Majdan wurde zum Herz des Kampfs für Gerechtigkeit und Menschenwürde.
Unvorstellbar: Gänsehaut bei der Staatshymne
Die Protestwelle weitete sich über die ganze Ukraine aus. Ich kam regelmäßig auf den Majdan. Viele Menschen verließen ihre Städte und machten den Kiewer Hauptplatz zu ihrem Zuhause. Die Frauen kochten Borschtsch in einem riesengroßen Kochkessel, die Männer bauten Zelte auf, die Mädchen brachten heißen Tee mit Käsebrot. Wir tanzten zu ukrainischer Musik, lernten einander kennen und wahrscheinlich haben wir dort zum ersten Mal begriffen, was die Wörter unserer Nationalhymne bedeuten. Hätte ich mir in der Schule vorstellen können, als ich jeden Morgen die Staatshymne hörte, dass ich irgendwann Gänsehaut von diesen Wörtern bekomme? Niemals.
Auf dem Majdan entstand sogar eigene Universität, die später als gesellschaftliche Organisation zu funktionieren begann. Für einen Notfall gab es eine Krankenstation, alle Einwohner konnten Kleidung und notwendige Sachen zu einem Annahmepunkt bringen. Jeden Sonntag kamen wir zu einer allgemeinen Versammlung. So bildete sich allmählich ein echter Staat mit eigenen Gesetzen und Regeln, in dem aber der Mensch der höchste Wert war. Darin stand jene Ukraine auf, in der wir leben wollten.
Tote: Die Stimmung dreht sich
Die Zeit verging, die Wochen waren vorbei. Die Proteste brachten keine Ergebnisse. Der Präsident Janukowytsch wollte sein Amt nicht niederlegen, auch nicht die Regierung. Die Menschen standen und warteten. Ende Januar herrschte keine fröhliche Stimmung mehr auf dem Majdan. Die Massenmedien haben die ganze Ukraine mit der Bombennachricht erschüttert: Unter den Protestierenden gibt es erste Tote. Der Armenier Sergij Nigojan und der Weißrusse Michail Schysneuski waren von den Spezialeinheiten „Berkut“ erschossen worden. Erschossen. Im Stadtzentrum. Im 21. Jahrhundert.
Keine Angst
Wir konnte es nicht glauben und empfanden nur Schock, Ärger, Hass und Trauer. Aber keine Angst. Die Lebensgefahr wirkte auf die Menschen nicht so, wie die Herrschenden es erwartet hatten. Neue Barrikaden wurden gebaut, die Majdangrenzen wurden rund um die Uhr bewacht, die Leute waren so entschieden eingestellt wie nie: Der Majdan steht bis zum Ende. In jedem Sinne…
Zu Hause hatten wir einen großen Streit, als mein Vater erfuhr, dass ich nach den ersten Todesfällen auf dem Majdan war. Schließlich habe ich damit aufgehört. Das ganze Geschehen fühlte sich wie ein Albtraum an. Die Realität zeigte sich als noch schrecklicher. Die Protestierenden verschwanden und wurden irgendwo im Wald gefoltert aufgefunden. Viele wurden verfolgt und sogar aus den Krankenhäusern entführt. Die Live-Übertragungen und der Nachrichtenstrom trieben uns in den Wahnsinn.
Durchhalten: „Sie kommen bald“
Ende Februar erreichte die regierende Diktatur ihren Höhepunkt . In ein paar Tagen wurden mehr als 100 Menschen im Stadtzentrum getötet. Zusammen mit seinen Eltern half mein Freund den Verletzten. Die Tage verbrachte ich mit seinem zehnjährigen Bruder. Wir spielten, redeten über irgendetwas, ich zappte ab und zu durch die TV-Kanäle, um eine Nachricht mitzubekommen und prüfte jede halbe Stunde mein Handy. Das Schwierigste war das Warten. Emotional war ich erschöpft. Einmal konnte ich mich nicht mehr zurückhalten und brach in Tränen aus. Der Kleine kam zu mir, umarmte mich und sagte: „Mascha, weine bitte nicht. Sie kommen bald“. Sie kamen wirklich bald.
Nach diesen blutigen Tagen kamen wieder schockierende Nachrichten: Janukowytsch und Anhänger sind geflohen, die Regierung ist zurückgetreten. Also, hat der Majdan gewonnen? Aber um welchen aber Preis? Tausende Ukrainer kamen auf den Platz, um der Gefallenen zu gedenken. Das Stadtzentrum versank in Blumen, Trauer und Tränen. Freude war kein Gefühl mehr. Unter den Getöteten waren auch 20-jährige Jungen! 20 Jahre! Unsere Vernunft konnte das nicht akzeptieren.
Keine Kraft mehr, keine Worte mehr
Meine Eltern fuhren nach Hause. Meine Freunde und ich gingen ins nächste Cafe, um uns aufzuwärmen und uns zu besinnen. Im Fernsehen wurde die Sitzung der Werchowna Rada (Parlament) ausgestrahlt, die die Absetzung von Janukowytsch und neue Präsidentenwahlen ankündigte. Die Staatshymne ertönte, alle Besucher des Cafés standen auf und sangen mit der Hand am Herzen. Wir setzten uns wieder an den Tisch, redeten kaum noch, warfen bloß abgehackte Phrasen in den Raum. Plötzlich wurde mir schwindlig, ich hatte einfach keine Kraft mehr. Mein Freund bestellte mir einen Tee mit Zucker, dann fuhr er mich nach Hause.
In den nächsten Tage sprachen wir nicht miteinander. Jeder brauchte Zeit. Jeder Ukrainer brauchte Zeit. Um das Ganze zu begreifen. Um zu verstehen, dass sich die Ukraine für immer verändert hat. Was Freiheit und Demokratie kosten, wussten wir jetzt nicht mehr bloß aus dem Geschichtsbuch. Das war weder der Sieg noch das Ende. Das war nur der Anfang. Der Anfang von der neuen Ukraine und zugleich von noch schwierigeren Herausforderungen, die keiner von uns sich vorstellen konnte. Jeder Ukrainer wird sie unbedingt durchhalten.
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