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Die pandemische Krise als kulturelle und spirituelle Krise

Krisen sind, dem Wortsinn nach, Zeiten der Unterscheidung, der Klärung und des Richtungsentscheids. Sie gibt Gesellschaften, die außer Atem geraten waren und die diese ihre Atemlosigkeit zum Alltagsfall erklärten, Anlass und Gelegenheit, einen Augenblick innezuhalten und sich die lange verdrängte Frage nach dem ‚Wozu‘ und dem ‚Wohin‘ neu zu stellen.

In diesem Sinne scheint es mir angemessen, dass wir die pandemische Krise auch als das verstehen lernen, was sie vielleicht vor allem ist: eine kulturelle und spirituelle Krise
Immer noch scheint diese Frage sprachlos zu machen und auf später vertagt, ganz so, als ob man ihr aus dem Weg gehen wolle. Das wäre durchaus verständlich, beginnt doch die Eule der Minerva ihren Flug erst am Abend, wohingegen der Ausgang der gegenwärtigen Krise immer noch völlig offen ist – auch wenn jetzt viele so tun, als läge das Schlimmste längst hinter uns. Das könnte eine Täuschung sein. Umso mehr scheint es sinnvoll, in aller Vorläufigkeit einmal Überlegungen aufzunehmen und zu fragen, welche Hinweise sich unserem Begreifen in den Wirren dieser Zeit zeigen. Dabei soll es im Folgenden nicht um politische, sondern um kulturell-spirituelle Fragen gehen, die hier als Kern und Hinterlassenschaft einer Krise, die als Pandemie begann, verstanden werden.

Die Pandemie stellt unsere Gewohnheiten infrage

Das Seil unserer alltäglichen Gewohnheiten, das uns in der Steilwand des Lebens Halt und Sicherheit gibt, ist gerissen. Unser Selbstbild hängt in der Luft. Worauf wir uns fest verlassen haben, nämlich Herr der Lage zu sein, gilt nicht mehr. Wir erleben eine Epoché, einen Abbruch bisheriger Verläufe, die uns zunächst fassungslos macht, weil wir in ihnen keinen Sinn erkennen können. Der Panzer unserer Gewohnheiten wird – ganz gegen unseren Willen – aufgebrochen, wie sind – und fühlen uns nicht nur – schutzlos und verletzbar. Die Bodenlosigkeit dieser Erfahrung geht an niemandem spurlos vorbei. Unser Alltag ‚konvertiert‘: Selbstverständlichkeiten zerbrechen und die Ausnahme wird zu einem neuen Alltag. Die Unterbrechung ist erzwungen. Aber das heißt ja mitnichten, dass wir sie nicht für einen Augenblick des Innehaltens und Abstandnehmens annehmen können. Vor diesem Hintergrund erscheinen mir ein paar über den Tag hinaus weisende Bemerkungen wichtig.

Die Distanz stellt Beziehung nicht infrage

Zunächst wäre es gut, zwischen physischer und sozialer Distanz zu unterscheiden. Physisch getrennt zu sein, muss keinesfalls bedeuten, sozial zu vereinsamen. Vielleicht ist das pausenlose Geplapper in den sozialen Medien kein guter Ersatz für menschliche Nähe – das wusste man jedoch auch schon früher. Aber verlässliche Beziehungen tragen über die Zeit und über den Raum hinweg. Sie aufzubauen, erscheint heute vielleicht wieder in einem anderen Licht. Der gute Freund, nebenan oder weit weg, die Nachbarin oder der Nachbar, ja, die eigene Hausgemeinschaft, jetzt zeigt sich, wer nah oder fern ist, welche Beziehungen tragen und Bestand haben.

Grenzerfahrungen in Zeiten der Globalisierung

Zur Bestimmung des Menschen gehört, nur in Grenzen leben zu können: in den Grenzen seiner Endlichkeit, seiner Sterblichkeit, seiner Zerbrechlichkeit, seiner Ohnmacht, nicht zuletzt in den Grenzen seines nie zulänglichen Wissens und seiner immer endlichen Vernunft. Leid, Tod und Hinfälligkeit, Ausgeliefertsein und Hilflosigkeit sind Erfahrungen, die wir oft genug machen, aber genauso oft schnell wieder vergessen wollen. Gerade in diesen Tagen erleben wir das im Rahmen des Überbietungswettbewerbs versprochener sogenannter ‚Lockerungen‘. Dieses Verdrängen, das schnelle Vergessenwollen um jeden Preis, ist kurzsichtig, weil es uns den Blick auf uns selbst verstellt. Nicht erst seit Max Frischs Roman „Homo faber“ aus dem Jahr 1957 wissen wir, dass jenes Selbstbild, das uns Francis Bacon vor genau 400 Jahren als Ideal vor Augen stellte, in eine Selbsttäuschung mündet, die uns wirklichkeitsblind macht: Verfügbarkeit, Machbarkeit, Beherrschbarkeit: das sind Idole, keine Ideale. Die Erfahrung von Leid ist keine Grenzerfahrung, sondern Alltagserfahrung des Menschen. Wer das bestreitet, hat vielleicht viel von jener Empfindsamkeit verloren, derer es bedarf, auch im Zustand bester Gesundheit zu wissen, dass schon morgen das Leben zu Ende sein kann. Warum ist das wichtig? Weil eine Gesellschaft, der in angemessener – also inspirierender, nicht desperater – Weise diese letzten Fragen vor Augen stehen, anders lebt: besonnener, dankbarer, gesammelter, aufmerksamer – das Ende bedenkend.
Ein Bewusstsein davon, nur in Grenzen leben zu können, heißt schließlich auch: zu wissen, dass hinter dem Leitbild einer ganz und gar entgrenzten Welt die Unmenschlichkeit lauert. Eine erste – und richtige – Reaktion auf das alle Grenzen weltweit überschreitende Ereignis war die Wiederentdeckung der Bedeutung von Grenzen. Nicht nur, weil Regierungen nur so ihrem bedingungslos bindenden verfassungsmäßigen Auftrag, das Volk zu schützen, gerecht werden konnten; sondern auch deshalb, weil Grenzen notwendig sind und bleiben, um bestimmte grundlegende Ordnungsaufgaben zu erfüllen. Sicher, Grenzen können auf schmerzliche Weise behindern, zerschneiden und trennen. Aber sie können auch helfen, den Überblick zu bewahren, ja, wie sich gezeigt hat, Leben zu retten. Wer von ihrer restlosen Abschaffung träumt – und Nationalstaaten gleich mit auf die Müllhalde der Geschichte befördern will, ist Gefangener eines Albtraums. Die inneren Widersprüchlichkeiten der Globalisierung verdienen mehr Aufmerksamkeit, als wir ihnen bisher geschenkt haben. Ist unsere Lebensform von einem Menschenbild geprägt – oder folgt unser Selbstverständnis den vermeintlichen Zwängen einer äußerlichen Lebensform? Um diese Frage geht es!

Innen-geleitet

Und schließlich ein drittes: Am Beginn des Studiums der Soziologie Anfang der 70er Jahre wurde uns ein Buch empfohlen, über das vermutlich Soziologen – und nicht nur sie – heute nur noch müde lächeln werden: „Die einsame Masse“ von David Riesman, 1956 erschienen. Ihr Verfasser, der übrigens Erfahrungen des Alleinseins in der zeitgenössischen Gesellschaft fernab der durch eine Pandemie erzwungenen physischen Distanzierung beschreibt, trifft eine grundlegende Unterscheidung, die ich auch heute noch für maßgeblich halte: die Unterscheidung nämlich zwischen der Außengeleitetheit eines Menschen und seiner Innengeleitetheit. Tatsächlich scheint mir, dass die Lebensform der westlichen Gesellschaften einseitig die Außenleitung eines Menschen zulasten seiner Innengeleitetheit fördert. Man macht es so, wie es offenbar alle machen, wie es ‚üblich‘ ist, wie es den Erwartungen der anderen entspricht – und muss dann nicht weiter darüber nachdenken, ob es klug, richtig und gut ist, es so zu machen, wie alle es zu machen scheinen. Wo aber Exteriorität – Äußerlichkeit – und Konformität ganz an die Stelle von Interiorität – Innerlichkeit – und Autonomie treten, erleidet der Mensch einen Verlust seiner selbst. Denn es ist ja gar nicht er selbst, der sich in seinem Handeln kundgibt, wenn dieses Handeln allein dem folgt, was man von ihm erwartet und was scheinbar alle anderen auch tun. Am Beginn der europäischen Philosophie stand die sokratische Selbstsorge als Seelsorge; heute hingegen, so scheint es, ist die Selbstverlorenheit vielen Menschen zur Gewohnheit geworden.

Rückkehr zum Selbst

Das, was die Philosophie eine ‚reditio in seipsum‘ nennt – scheint mir eine Aufgabe, über die sich heute mehr als zuvor nachzudenken lohnt. Wie viele der Selbstverständlichkeiten einer Gesellschaft, die ständig außer Atem und von innerer Unruhe getrieben ist, in der Menschen nie bei sich sein können und in der es zum guten Ton gehört, keine Zeit zu haben, sind nicht menschengerecht, sondern menschenverachtend? Nicht Folge einer Innerlichkeit, die das äußerliche Tun beseelt und anleitet, sondern Folge nur eines nahezu blinden Herdentriebes: Weil alle es so machen, muss ich es doch genauso halten. „Jedes Wissende weiß sein Wesen, also geht es durch eine vollständige Rückwendung zu seinem Wesen zurück“, schreibt Thomas von Aquin in einem berühmten Kommentar zu einem Bestseller seiner Zeit, dem „Liber de causis“. Wenig genug kann der Mensch wissen, weil seine Vernunft endlich, schwach und begrenzt ist. An der Zerbrechlichkeit dieser Vernunft, die ihm lebenslang zu wissen verwehrt, was er doch um alles in der Welt wissen möchte – nämlich woher er kommt und wohin er geht – , leidet er sein Leben lang. Wenn er jedoch schon kaum etwas sicher wissen kann: Sollte er sich dann nicht wenigstens bemühen, ein Wissen über sein eigenes Wesen zu mehren und zu festigen?
Heute meinen jedoch viele: Selbstfindung bleibe ein Wahn, weil Menschen, zu Selbsterschaffung und Selbsterfindung verurteilt, gar kein eigenes Wesen besäßen. Wenn aber nun doch? Was ist, wenn die Konstruktion des außengeleiteten, rast- und ruhelosen Menschen, der aus beruflichen Gründen oder um seines Vergnügens willen von Kontinent zu Kontinent hastet, an seiner Bestimmung – seiner Natur – vorbei schrammt? Vielleicht stimmt es ja: Wo lärmende Äußerlichkeiten entmächtigt werden, geht die Tür zum inneren Menschen auf und es öffnet sich ein Raum der Selbsterkenntnis – es ereignet sich Transzendenz, still und lautlos. Damit stellt sich umso dringlicher die Frage: Sollte nicht der innere Mensch den äußeren prägen – statt dass umgekehrt der innere Mensch durch die Herrschaft von Äußerlichkeiten mundtot gemacht wird? „Immer erreichbar!“ heißt es in der Werbung für ein Smartphone. Ruheräume sind in dieser Lebensform ununterbrochener Exteriorität nicht vorgesehen. Nachdenklichkeit aber bedarf der Stille, in lärmender Umgebung kann sie nicht gelingen.

Es gibt ein schönes Gedicht von Gottfried Benn, das beschreibt, wie Rastlosigkeit und Unruhe – ob nun freiwillig oder erzwungen zur Gewohnheit geworden – die Sehnsucht des Menschen nicht erfüllen können: „Meinen Sie Zürich zum Beispiel“, dichtet Benn in unmittelbarer Ansprache des Lesers, „sei eine tiefere Stadt, / wo man Wunder und Weihen / immer als Inhalt hat?“ Das Gedicht fährt fort: „Meinen Sie, aus Habana, / weiß und hibiskusrot, / bräche ein ewiges Manna / für Ihre Wüstennot?“ und endet schließlich: „Ach, vergeblich das Fahren! / Spät erst erfahren Sie sich: / bleiben und stille bewahren / das sich umgrenzende Ich.“ Was hilft es, vergeblich in der Ferne zu suchen, was man nur in nächster Nähe – in sich selbst – finden und „stille bewahren“ kann?

Zurück zur Selbstsorge

Diese Frage ruft bei vielen Zeitgenossen nur ein müdes Lächeln hervor, weil sich in ihr eine erschreckende Antiquiertheit im Denken zu offenbaren scheint. Denn wo es ausschließlich ein sich selbst erschaffendes menschliches Dasein gibt, da scheint doch für ein geschöpflich verdanktes Sein gar kein Raum. Folgerichtig tritt heute bei vielen Zeitgenossen – ganz im Einklang mit bestimmten philosophischen Strömungen – Selbsterfindung an die Stelle von Selbstfindung. So sieht es der Bauplan unserer zeitgenössischen Gesellschaften vor, so entspricht es dem Denken der Postmoderne. Der Lockdown aber macht jede autopoietische Inszenierung sinnlos, weil die Bühne, auf der er sich selbst in Szene setzt, leergeräumt ist und nicht betreten werden darf. Folglich werden Menschen zur schonungslosen Begegnung mit sich selbst gezwungen. Das kann Traurigkeit, Schwermut, Wut oder gar Zornesausbrüche verursachen, bietet aber doch vor allem und immer eine Gelegenheit zur Selbstfindung – eine ungewohnte Lebenslage, die manche nicht ertragen, weil sie sich ihr nicht gewachsen fühlen. Vielleicht müssen wir aber neu lernen, dass Selbstsorge in liberalen Gesellschaften – mehr noch als in autoritativ geprägten – unverzichtbar für deren Selbsterhalt ist. Es gibt Dinge, gegen die wir nicht gefeit sind.

Aufgabe des Staates

Viele Menschen bangen jetzt um ihre wirtschaftliche Zukunft; sie fürchten sich, allein zu sein oder gar vergessen zu werden, trauern vielleicht sogar um tote Angehörige. Wenn nun gelegentlich gefragt wird, welcher Sinn sich hinter den Schrecken der Pandemie, den vielen Kranken und Toten, schweren Sorgen und großer Angst vor Ansteckung, Vereinsamung, ja, neuer Armut und Not verberge, dann wird man wohl sagen können: So wenig wie ein Erdbeben hat eine Pandemie einen Sinn, der ihr auf die Stirn geschrieben steht. Aber sie ruft Fragen wach – Fragen, die eine kulturelle Krise, die ja immer eine interpretatorische Krise ist, ausmachen. Es geht um unser Selbstverständnis, unsere Selbstdeutung und unser Selbstbild als Menschen im 21. Jahrhundert. Darüber nachzudenken lohnt in einer durch schreckliche äußere Umstände erzwungenen Ruhe – einer Epoché, die von heute auf morgen fast alles zum Stillstand brachte, was vorher in unserem Leben wichtig war, und uns jetzt darüber belehrt, dass, wenn vom Menschen die Rede ist, zunächst über sein blankes, nacktes Leben gesprochen werden muss. Das zu schützen, ist die Kernaufgabe von Staaten schlechthin. Niemand kann ihnen diese Aufgabe abnehmen. Und wer, wie jüngst Giorgio Agamben in der Neuen Zürcher meinte, die Wahrnehmung dieser Aufgabe als einen ‚Zusammenbruch grundlegender ethischer Prinzipien‘ beschreiben zu können meint, vergisst offenbar, dass nur der Schutz des nackten Lebens die Voraussetzung seiner Gestaltung in Würde ist. Das Leben ist der höchsten Güter nicht – ja, dieser Satz hat seine Bedeutung für jeden einzelnen Menschen in wichtigen Lebensentscheidungen. Aber der Staat darf ihn sich nicht – außer bestenfalls im Verteidigungsfall, also angesichts der kollektiven Bedrohung gerade des nackten Lebens, deren Abwehr das individuelle Opfer rechtfertigen kann – als Maxime seiner Entscheidung zu eigen machen.
Wie also hält es der Staat mit der Schutzbefohlenheit des nackten Lebens? Spätestens die jetzt aufflammende Auseinandersetzung über die ‚Triage‘ – die von Ärzten im äußersten Notfall vorzunehmende Auslese und Auswahl von Kranken – zeigt das mit aller Schärfe. Eine bisher nur abstrakt – meist nur von Spezialisten unter Ethikern und Juristen – geführte Debatte über jenes Menschenbild, das unserer Gesellschaft zugrunde liegt, tritt jetzt unverhofft mitten in unser eigenes Leben: Jeder kann schon morgen betroffen sein von einer Entscheidung, für die es keine Rechtfertigung gibt, die aber gleichwohl in äußerster Not zu treffen ist, weil nicht zu entscheiden eben auch eine Entscheidung ist. Und diese Entscheidung ist gleichbedeutend mit dem Todesurteil für die Betroffenen. Deshalb ist es in jeder Hinsicht richtig und gut, dass der Staat mit allen ihm verfügbaren Mitteln darauf abzielt, eine solche Situation gar nicht erst entstehen zu lassen.

Darüber nachzudenken ist Teil jener Spiritualität, die unserer Gesellschaft abhanden zu kommen droht. Sie wieder neu freizulegen, ist kein Luxus, sondern Gewährleistung unserer Menschlichkeit: indem wir Wege finden, unserer eigenen Gebrechlichkeit gewahr zu bleiben, ohne angesichts des Erschreckens, das mit deren Erleben einhergeht, zu erstarren. Das kann gelingen, wo an die Stelle der Angst vor Vernichtung die Hoffnung auf Vollendung tritt.


Kategorie: Verstehen

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