Fühlen wir uns aber überhaupt frei, diese Entscheidungen zu treffen? Oder verhalten wir uns „postfaktisch“, dass wir nicht in der Lage sind, den Lauf der Dinge zu ändern. Wir müssen uns erst darüber klarwerden, über welchen großen Spielraum wir verfügen, wenn wir entscheiden. Und uns muss klarwerden, dass wir es sind, die entscheiden. Die Materie und auch nicht die biologische Natur steuern unsere Freiheit. Denn inzwischen beherrschen wir die Natur und können jeden Rohstoff in Technik verwandeln. Die Lagerstätten für den letzten Tropfen Öl oder die Erden, die wir für unsere Handys brauchen sind, inzwischen ausgemacht. Wir können mit dem Hubschrauber an jeden Ort kommen und dort einen Mast für das mobile Telefonieren aufstellen. Überall sind wir mit unseren Entscheidungen. Das Verständnis für die darunterliegende Freiheit, die sich global ausspannt, müssen wir noch einholen.
Die herrschende Philosophie kann die Antwort nicht liefern
Die Philosophie ist dazu da, Grundlagen für langfristige Entscheidungen zu formulieren, so dass der Mut zu Entscheidungen wächst. Das hat sie oft in der Geschichte gemacht. So hat John Locke mit seinen Ideen die Formulierung der Verfassung der Vereinigten Staaten ermöglicht. Schon im 17. Jahrhundert haben die spanischen Theologen Francisco de Vitoria und Francisco Suárez die Volksouveränität definiert, dass die damaligen Monarchen von den Bürgern für ihr Regieren legitimiert werden müssen. Die Einführung einer Sozialversicherung durch Bismarck ist eine Reaktion auf Karl Marx. Eine nachmaterialistische Philosophie muss die Dimensionen der Freiheit ausloten, die Freiheit so zu sich selbst bringen, dass sie sich traut zu entscheiden. Vielleicht ist das erste, was eine neue Philosophie leisten muss, den Mut zur Freiheit zu vermitteln. Die Übermacht der technischen Systeme macht nicht nur ihre Nutzer zu Objekten einer Totalüberwachung, sie zwingt sie zum Gebrauch einiger weniger Anbieter und vermittelt dann noch das Gefühl, dass es anders nicht geht. Postfaktisch wird dieser Zustand bezeichnet. Damit wird der Klimakollaps dann "alternativlos".
Freiheit ist keine Physik
Der vorherrschende denkerische Zugriff der Philosophie auf den Menschen verspricht, alles, auch ihn selbst, aus der Materie zu erklären. Naturalismus nennt sich diese Richtung, meint aber nicht ein Eintauchen in die Natur, sondern alle Erklärung von den Naturwissenschaften zu erwarten. Das würde bedeuten, dass die Naturwissenschaften, z.B. die Hirnforschung, herausfinden wird, wie Freiheit funktioniert. Das werden die Naturwissenschaften nicht können, denn sie suchen nach Gesetzmäßigkeiten. Sie wollen für alles die der Materie eingepflanzten Gesetze herausfinden, denn diese ermöglichen dann, Raketen zu konstruieren, Handys zu optimieren, Impfstoffe zu entwickeln. Diese Gesetze sollen möglichst in mathematischen Formeln und Gleichungen formuliert werden, denn dann kann aus den Stoffen und Vorgängen Technik konstruiert werden, die auch funktioniert. Ein Flugzeug fliegt tatsächlich, wenn seine Flügel nach den von Bernoulli formulierten Strömungsgesetzen konstruiert ist. Weil Naturwissenschaften die Angeln sind, in denen die Tür des Naturalismus sich bewegen lässt, kann diese Philosophie die Freiheit nicht fassen. Sie hätte es lieber, wenn diese berechenbar wäre. Das kommt dann optimal mit dem Denken technokratisch orientierter politischer Systeme überein, die wie China alles planerisch im Griff haben wollen, und auch den letzten Funken Freiheit bei einigen tausend jungen Leuten in Honkong nicht ertragen können. Die USA sind nur noch scheinbar der Hort der Freiheit. Die Regierung verfügt nicht nur über den größten Spionage-Etat, sondern bekommt auch von Google&Co alles berichtet, was diese über das Verhalten der einzelnen aufgezeichnet und mit Algorithmen ausgewertet haben. Es zeigt sich deutlich, dass diese Bedrohungen der Freiheit von den Naturwissenschaften gar nicht eingeschätzt werden können. Das erklärt, warum die herrschende Philosophie zwar bestimmen kann, wie der philosophische Nachwuchs zu denken hat, wenn er eine Assistenten- oder gar Professorenstelle haben will, dass diese Philosophie sich aber inzwischen von der Freiheit aber losgekoppelt hat. Gäbe es keine Romane, keine Wahlen und Kabalen der Politiker, keine Scheidungen und keine religiösen Berufungen mehr, wir wüssten nicht mehr, was Freiheit ist. Weder die Hirnforschung noch die naturalistische Philosophie würden den nachwachsenden Generationen die Dimensionen der Freiheit erschließen. Da die Schulen inzwischen voll vom Naturalismus erobert sind, wird dort nur noch auswendig gelernt. Der Grund ist einfach: Die Klassenarbeiten lassen sich schneller benoten, wenn die Schüler nur schablonenhaft Kästchen ausfüllen. Eigenes Nachdenken ist schwieriger zu benoten. Da die Eltern immer mehr Druck auf die Lehrerschaft ausüben, die Noten anzuheben, können letztere sich besser schützen, wenn sie nur Gelerntes abfragen. Die Schüler und Schülerinnen reagieren mit Bulimie-Lernen, also dem möglichst schnellen Vergessen des Gelernten, um im Hirn den Platz für neue Abfragstoffe freizumachen. Das klingt despektierlich, aber so haben es mir Abiturienten und Abiturientinnen erzählt.
Gleiches könnte über die Architektur oder die Qualität des Fernsehens festgestellt werden. Der Naturalismus inspiriert nicht, denn er perfektioniert sich mit der Betriebswirtschaftslehre. Das sind dann Kultur, Religion, überhaupt der Unterhalt von Kirchen und Opernhäusern wirtschaftlich nicht zu rechtfertigen. Und schon gar nicht rechnet sich der Umweltschutz.
Freiheit bestimmt die Geschichte
Wie oft in der menschlichen Geschichte wird die Freiheit allenfalls geduldet. Sie ist jedoch die entscheidende Größe im Menschen ist, der Mensch von ihr her zu denken ist und Verstand und Wille ihren Sinn erst finden, wenn sie Freiheit ermöglichen. Der Verstand liefert die Einsicht in die Bereiche, in denen Entscheidungen möglich sind und anstehen. Weiter stellt der Verstand die Denkwerkzeuge zur Verfügung, um die Folgen einer Entscheidung abzuschätzen. Den Willen braucht die Freiheit, damit sie das auch umsetzt, für was sie sich entschieden hat. Denn Freiheit ist ja die Selbstbestimmung, dass der Mensch das wird, für was er sein Leben einsetzen will. Das geschieht heute in globaler Vernetzung, in meiner Freiheit verwirklicht sich die Freiheit aller und erhalten Pflanzen und Tiere erst ihr Lebensrecht zurück. Denn wenn wir uns unserer Freiheit nicht global bewusstwerden, haben die anderen Lebewesen keine Zukunft.
Freiheit weiterdenken
Für eine Philosophie der Freiheit beginnt nicht beim Punkt Null. Sie wird im Grundgesetz als das zentrale Fundament der Menschenwürde eingeführt. Sie ist in die Freiheitsrechte differenziert. Die Psychologie hat den Zusammenhang von Motivation und Freiheit erforscht. Schriftsteller und Drehbuchautorinnen haben Freiheitsentwürfe durchgespielt. Die Hirnforschung könnte zwar keine Gehirnregion ausmachen, in der die Freiheit lokalisiert wäre, aber sie hat bereits wichtige Erkenntnisse gewonnen, die das Verständnis erweitern, wie Neuronen Freiheit ermöglichen.
Es ist die Freiheit selbst, die sich neu verstehen muss. Sie ist nicht mehr die, die für die Freiheit der Wissenschaft von staatliche rund kirchlicher Bevormundung Erforschung der Natur in Anspruch genommen werden muss, auch nicht die Aufhebung der Zunftordnungen, um dem Unternehmertum mehr Freiräume zu eröffnen, und auch nicht die, die als Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit, Religionsfreiheit erkämpft werden muss, sondern die Freiheit, mit der Mensch die Zukunft aller Lebewesen bestimmt. Diese neuen Räume eröffnen sich dem Denken!
Wie dieFreiheit von usnerem Charaktermuster eingeengt wird zeigt Jutta Müggean neun Mustern auf:
Der größte Feind unserer Freiheit sind wir selbst
Kommentare (0)
Keine Kommentare gefunden!