Foto: hinsehen.net

Was sich im Gesicht spiegelt

In der Gesichtsmimik zeigen sich Gefühle. Diese Annahme ist nicht falsch, dennoch ist eine solche Aussage zu unterkomplex. Die Wahrnehmungsgewohnheiten bestimmen oder beeinflussen die Ordnungsregeln, mit denen eine spezifische Beziehung zwischen dem Beobachteten und den Gefühlen gesucht wird. So führt zum Beispiel die Zunahme der Digitalisierung zu einer Verunsicherung über die Richtigkeit einer Zuordnung. Auf der einen Seite wird befürchtet, dass eine Information gefälscht sein könnte und anderseits wird die Wahrnehmung von Gefühlsausdrücken auf Authentizität fokussiert. Der Unübersichtlichkeit steht die Sehnsucht entgegen, das wahre Gefühl im Gesichtsausdruck erkennen zu können.

Gefühle finden ihren Ausdruck in der Gesichtsmimik. Menschen sind in der Lage, einem Gesichtsausdruck ein bestimmtes Gefühl zuzuschreiben. Über Kulturen und Zeiten hinweg sind die Zuschreibungen gleich. Die konkrete Bewertung eines Gefühls kann allerdings in den Gesellschaften unterschiedlich sein, was dazu führen kann, dass für das Erkennen bestimmter Gefühle Blockaden bestehen können. Der Psychologe Paul Ekmann hat ein recht verlässliches System entwickelt, mit dem ein Gesichtsausdruck einer Emotion zugeordnet werden kann. So können auch Andeutungen einer Gefühlsbewegung in der Mimik erkannt und gedeutet werden. Menschen, die geübt im Erkennen von Emotionen sind, haben mit dieser Fähigkeit auch ein Instrument in der Hand, andere Menschen zu manipulieren. Der Mensch ist deswegen jedoch kein offenes Buch. Die Überlebenschancen wären sehr gering, wenn dies so wäre. Die Evolution, so könnte man es formulieren, hat es klug eingerichtet, dass der Mensch sich verstellen kann. Wüsste der Mensch allerdings, dass er sich gerade verstellt, könnte dies wiederum an einer kurzen Verzögerung erkennbar sein. So kann es dazu kommen, dass jemand nur meint, ihm wäre ein Gefühl deutlich anzusehen, andere davon jedoch nichts bemerken. Die Fremdwahrnehmung stimmt hier nicht mit der eigenen Einschätzung überein.

Gesichtserkennung

Das Gesicht kann als ein besonders gutes Medium der Personenerkennung genutzt werden. Zwar verändert sich das Gesicht im Laufe des Lebens, doch bleiben die markanten Züge gleich. Kann man bei Babyfotos Schwierigkeiten haben, selbst nahe und vertraute Menschen zu erkennen, so ist mit fortschreitendem Alter die Eigenart einer Person immer deutlicher ins Gesicht geschrieben. Die gemachten Erfahrungen scheinen sich wie ein Geschichtsbuch in die Mimik einzugravieren.

Die Bestimmung der Wahrnehmung

Die Bemühungen Paul Ekmanns, Gefühlsausdrücke sehr genau zu beobachten und Marker zu bestimmen, folgt einer Logik, die davon ausgeht, dass Beobachtungen unabhängig seien. Im Grunde genommen ist dies ein recht naives Weltbild. Schon Helmuth Plessner versuchte Lachen und Weinen nicht als Gefühlsausdruck zu begreifen. Der Soziologe Armin Nassehi würde von einer vergessenen Komplexität sprechen. Der Beobachtende ordnet seine Wahrnehmungen nach einer bestimmten Regel. Es werden eine bestimmte Anzahl an Gefühlen angenommen und dementsprechend die Beobachtungen zugeordnet. Phänomenologisch ist zunächst festzustellen, dass ein Gesichtsausdruck nicht nur die Spiegelung eines angenommenen Gefühls ist, sondern gleichzeitig beim Beobachter eine Reaktion hervorruft. Durch einen Gesichtsausdruck entstehen Stimmungen. Es kann oft erst im Nachhinein erkannt werden, wer im Raum diese Stimmung durch seinen Gesichtsausdruck bewirkt hat. Wie Wechselwirkungen entstehen, ist noch schwieriger zu bestimmen. Ferner sind Sehgewohnheiten maßgeblich dafür, mit welcher Tiefenwahrnehmung Gefühlsausdrücke erkannt werden. In einer Welt, wo man sich analog begegnet, spielen wahrscheinlich Stimmungen eine größere Rolle; Gerüche verstärken oder blockieren Wahrnehmungen. Menschen, die an eine digitalisierte Welt gewöhnt sind, sind darin geschult, Informationen aufzunehmen und aufgrund dieser Daten schnell zu entscheiden. Es ist dabei interessant, dass mit zunehmender Komplexität der Informationen zum Beispiel die Zuverlässigkeit im Erkennen von Lügen abnimmt. Eine Fernsehnachricht ist weniger verlässlich als eine nur gehörte Nachricht und eine gelesene Information ermöglicht am ehesten das Erkennen von Lügen. Dies bedeutet umgekehrt, dass die Erhöhung der Komplexität durch den Buchdruck, Hörfunk, Fernsehen und die digitalen Medien die Befürchtung erhöhen, dass eine Nachricht Fakenews sein könnte und man kaum in der Lage ist, wahr und falsch zu unterscheiden. Umso größer wird das Bedürfnis nach analogen Lösungen. Das bedeutet, die Erwartungshaltung an konkrete Begegnungen mit Menschen wird größer. Und der Wunsch nach Authentizität wird für die Wahrnehmung von Gesichtsausdrücken maßgeblich. Ein Gesicht wird deshalb als schön empfunden, weil es wahrhaftig erscheint und nicht weil es wohlgeformt ist. Im Gesicht soll sich dann nicht die Mannigfaltigkeit einer Person spiegeln oder das Spiel verschiedener Gefühle zeigen, vielmehr wird Eindeutigkeit gesucht und die Wahrnehmungsgewohnheiten werden daraufhin geschult. Im Ausdruck der Gefühle wird ein ganz bestimmtes Gefühl versucht auszumachen und nicht die Ambivalenz oder Vielschichtigkeit des Gefühlszustands. Festlegung wird hierbei mit Erkenntnis gleichgesetzt. Im Gegensatz dazu stünde ein spielerisches Erkunden, bei dem unterschiedliche Perspektiven zu einer komplexen Erkenntnis führen würden. In der Wechselwirkung käme es einmal zu einem eingeschränkten Gefühlsleben und auf der anderen Seite zu einem sehr vielschichtigen emotionalen Erleben, was nicht nur als bereichernd, sondern auch als stark verunsichernd erlebt würde. Solche Gefühlssituationen würden wiederum auf die Wahrnehmung zurückwirken.

Literaturempfehlungen:
Paul Ekmann 2007. Gefühle lesen. Wie Sie Emotionen erkennen und richtig interpretieren. München: Elsevier GmbH
Armin Nassehi 2017. Die letzte Stunde der Wahrheit. Hamburg: Sven Murmann


Kategorie: Gesehen

Kommentare (0)

Keine Kommentare gefunden!

Neuen Kommentar schreiben

Zum Seitenanfang