Foto: hinsehen.net J.M.

Vergänglichkeit - eine Novembermeditation

Mit jedem Schritt an diesem Strand hinterlasse ich Spuren von dem Profil der Sohlen und den Einstichen meiner Walkingstöcke. Die Flut wird sie wegspülen, jedoch nicht aus meinen Sinnen. Die Eindrücke verwischen sich nicht.

 Vertiefungen und kleine Löcher entstehen im feuchten, von der salzigen Meeresflut durchnässten Sand. Wenn ich mich umdrehe, kann ich meine Spuren verfolgen. Ich bin nicht alleine, auch andere Abdrücke im Sand sind da. Vor mir hat ein Hund seine großen Pfoten in den Sand gegraben, neben mir erkenne ich Hufspuren von den Ponys, die hier vorbeigezogen sind. Auch Muscheln, Steine, Strandgut finden sich am Uferstreifen. Andere Wanderer mit kleinen oder großen Füssen hinterlassen ebenso ihre Schuhprofile. Sogar der Wind zeichnet seine Spuren in den Sand. An manchen Stellen scheint es, als hätte er mit einem breiten Kamm den Strand in Streifen gelegt. Jeder, selbst die Sonne, die den feuchten Sand trocknet, hinterlässt etwas auf diesem Strandabschnitt. Es entsteht jeden Tag ein neues interessantes Mosaik. Die nächste Flut, die mit Gewissheit kommt, wird alle Spuren, jedes Bild vernichten, den Strand glätten, neue Muscheln an das Ufer spülen. Andere Fußstapfen werden das Bild neu zeichnen, der Wind wird den Strand neu ordnen.
Mich erinnert diese immer wiederkehrende Veränderung an eine Tafel, auf der Restaurants ihre Mittags- Menus mit Kreide visualisieren. Auch das ist nicht für ewig, sondern nur für heute oder vielleicht gerade noch für morgen. Ich kann ja alles wieder auswischen, neu beschriften. Am Strand schreibe ich meinen Weg in den Sand, hinterlasse Spuren die das Meer mir wie mit einem Tafelschwamm wieder wegnimmt. Aber anders als bei der Tafel, bleibt etwas in mir zurück das mir die Wegstrecke schenkt. Es sind Eindrücke, Bilder, Geräusche, Gerüche, die nicht so schnell verblassen. Sie bleiben nachhaltig in mir. Sie sind ein Geschenk an meine Sinne.

Mit allen Sinnen aufnehmen

Mit meinen Augen kann ich weit in die Ferne schauen, bis dahin, wo Windparks mitten im offenen Meer dafür sorgen, dass ich auch mein Handy wieder aufladen kann. Der Wind erfüllt nicht nur für Segler einen Sinn, sondern betreibt auch die Flügel der Windräder für den Strom. An ihnen vorbei ziehen große Schiffe, die aus dem Hafen ausgelaufen sind, um eine große Reise anzutreten. Sie haben noch einiges vor sich. Was werden sie alles erleben?
Auf den Wellen tanzen Schaumkronen, die in der Sonne glitzern. Nur ab und an traut sie sich hinter den Wolkengebilden heraus, um den grauen Sand zu trocknen. Manche Strandabschnitte mit den hohen Dünen ähneln dann den Bildern aus der Wüste. Licht und Schatten entwickeln immer wieder neue Eindrücke vor meinen Augen.
Meine Ohren hören das rhythmische Rauschen des Meeres, die Wellen, die auf den Strand rollen, die Schreie der Möwen, die mit dem Wind über mir dahintanzen und ab und an dringt das Gebell spielender Hunde an mein Ohr. Auf meinen Lippen kann ich Meersalz schmecken. Meine Haut spürt den frischen Wind im Gesicht, ich fühle, wie die Kälte sich auf meinen Wangen niederlässt. Tief atme ich durch, um die Aerosole bis in die letzten Spitzen meiner Lungenflügel einzuatmen. Um diese Luft, die Bilder der Landschaft in mir aufzunehmen, bleibe ich immer wieder stehen, schaue, höre rieche, schmecke. Ich spüre für diese Erfahrung große Dankbarkeit in mir. Von Wind und Sonne durchströmt erlebe ich mich an diesem weiten Strand so frei und gleichzeitig zugehörig zu dieser schönen Welt. Ich habe teil an dieser wunderbaren Welt, darf die Natur genießen, die mir ihren Reichtum einfach schenkt.

Nachwirkung

Was ist es wohltuend nach den vergangenen tristen, regnerischen Novembertagen in diese Landschaft einzutauchen, aufzutanken, Danke zu sagen für mein Leben, aber auch für die Schönheit dieser Natur. Jetzt kann der Winter kommen, denn diese Erfahrung geht nicht so schnell verloren. Sie ist der Wintervorrat, der mich vor dem seelischen Aushungern schützt. Ich kann davon noch eine Weile zehren, den Eindrücken nachspüren, die Bilder vor mir auftauchen lassen, den Wind auf meinen Wangen spüren, mich eingebunden und zugehörig fühlen zu dieser schönen Welt.

Wenn ich tiefer darüber nachdenke steigen in mir Gedanken auf, dass es im Leben doch um dieses „Eigentliche“ geht. Mit allen Sinnen jeden Tag an jedem Ort präsent und aufmerksam zu sein. Situationen und Bilder wahrzunehmen und zu spüren, wie sich das Leben anfühlt. Erfülle ich nicht damit mein Menschsein, wenn ich hinter diesen Bildern die Schöpfung bewusst aufnehme, verinnerliche, ihren Wert und ihren Sinn für mein Leben erkenne? Ist es nicht das Ziel der Evolution, dass ich spüren kann, welche tiefere Bedeutung das Leben für mich bereithält?

Link zu einer Herbstmeditation der Autorin: Ende Oktober - Nichts endet im Nichts


Kategorie: Gesehen

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