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Achtsamkeit ist keine Wellness

„Achtsamkeit“ ist zu einem neuen Modebegriff geworden. Psychologen, Manager, gestresste Hausfrauen, Lehrer, Sozialarbeiter usw. belegen Kurse, um sich in Achtsamkeit zu schulen. Buchverlage folgen diesem Trend, indem sie Achtsamkeits-Ratgeber publizieren. Die Einengung auf eine besondere Form der Aufmerksamkeit und damit auf die individuelle Dimension erweist sich als unterkomplex. Die gesellschaftlichen Bedingungen und die Bedeutung von Achtsamkeit in und für eine Gesellschaft werden bei einer solchen Sicht vernachlässigt.

Was aber kann man unter Achtsamkeit verstehen und wie denkt und verhält sich ein Mensch, der achtsam lebt? Achtsamkeit wird im Allgemeinen definiert als Aufmerksamkeit für die Bedürfnisse und Belange anderer Menschen, man ist feinfühlig und erkennt oder erspürt, was ein Gegenüber benötigt. Eine andere Begriffserklärung stammt aus dem Umfeld von Buddhismus und Psychologie. Gemeint ist hier ein Wahrnehmungs- und Bewusstseinszustand, der durch die Konzentration auf das Hier und Jetzt, vorurteilsfrei sowie gewohnte Muster überschreitend wirkt.

Zur Etymologie des Begriffs

Im Deutschen ist die erste Silbe ‚acht‘ mit sehr unterschiedlichen Bedeutungen belegt. Einmal ist es die Zahl 8 und dürfte als zugrundeliegendes Wort eine Bedeutung haben, die die Handfläche bezeichnet, d. h. vier Finger breit, zusammengesetzt dann die Länge von 8 Fingerbreiten (avestisch: uz-astay). Ein weiteres mittelhochdeutsches Wort ist die ‚Acht‘, die Friedlosigkeit meint. Wer von einem weltlichen Gericht geächtet wurde, konnte straflos getötet werden. Die dritte Bedeutung ist ‚Acht‘ im Sinne von Obacht, Beachten oder Hochachten. Es könnte als scharfsinniger Sinn, Verstand gedacht werden, so bei Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Ins Englische kann achtsam mit careful - sorgfältig, attentive - aufmerksam, mindful - auf etwas bedacht oder auch observant - wachsam übersetzt werden. Im Französischen finden sich für achtsam die Worte précautionneux - vorsichtig oder soigneusement - sorgfältig, besorgt. Das Lateinische hat den Begriff diligentia, was Achtsamkeit, Sorgfalt, Umsicht, Aufmerksamkeit wie in einer zweiten Bedeutung auch Wirtschaftlichkeit oder Sparsamkeit bezeichnet. Achtsamkeit, so lässt sich vielleicht zusammenfassen, ist ein sorgfältiges und wachsames Beachten von Objekten, die in die Aufmerksamkeit des Einzelnen fallen, und gleichzeitig die Sorge um diese Objekte, worin sich eine Hochachtung eben diesen gegenüber zeigt. Achtsamkeit wäre dann nicht nur eine besondere Form der Aufmerksamkeit und Sorge um das eigene Wohlbefinden, sondern auch eine ethische Dimension im Umgang mit einem Gegenüber.

Achtsamkeit ist kein Wohlfühlprogramm

Die aufmerksame Beachtung eines Menschen oder eines Gegenstands bedeutet immer auch, dass etwas wichtig genommen wird. Zwar kann es eine schwebende Aufmerksamkeit geben, die zunächst keine Wertung enthält, doch verlangt das Überleben, irgendwann etwas in den Fokus zu nehmen, also Nahrung oder Gefahren. Ebenso kann die Wahrnehmung dazu führen, dass das Subjekt von etwas angerührt ist und dann Gefühle die schwebende Aufmerksamkeit verdrängen. Was und warum nimmt ein Subjekt etwas in seinen Fokus? Dieser Vorgang kann nicht unabhängig von den familiären, kulturellen und gesellschaftlichen Prägungen und Bedingungen sein. Es ist auch der Fall denkbar, dass durch die Achtsamkeit Widersprüche, Ungerechtigkeiten, Gefahren, Bösartigkeiten u. a. wahrgenommen werden. Achtsamkeit mit der Absicht zu erlernen, ein gutes Gefühl zu bekommen und entspannt oder sorgenlos zu sein, wäre ein Widerspruch in sich selbst. Das Ergebnis muss offen sein und es bedarf eines gewissen Selbstzutrauens, Reaktionen auf auftretende Stimuli, die das Weltbild und die Gefühlslage stark erschüttern können, auszuhalten. Es bedarf der geschulten Selbstsorge, um sich nicht zu verlieren oder in einem Gefühlschaos von ‚falschen Propheten‘ leiten zu lassen.

Die gesellschaftlichen Bedingungen für Achtsamkeit

Das Subjekt ist bewusst oder unbewusst, von unterschiedlicher Intensität und in Zustimmung oder Ablehnung zu Wichtigkeiten von den gesellschaftlichen Gegebenheiten gelenkt. Eine Gesellschaft stellt Bereiche oder Zeiten zur Verfügung, die dem Einzelnen Momente der Achtsamkeit ohne Regeln und damit Konsequenzen ermöglichen. Solche Bereiche sind die Kirchen und Religionen, die unbeschwerte Kindheit oder auch die Psychiatrie und das Gefängnis, in denen bedingt durch Medikation oder Eingeschlossensein keine Gefahren für die Allgemeinheit bestehen. Die Bedingungen sind für Gesellschaften unterschiedlich. In Diktaturen wäre die Förderung von Achtsamkeit staatszersetzend, in Demokratien unterliegt der Umgang mit Achtsamkeit sehr komplexen Zusammenhängen und ist keineswegs frei. Demokratische Gesellschaften, die kaum noch von Institutionen wie den Kirchen bestimmt werden und daher weniger einheitlich in ihren Wertvorstellungen sind, erzeugen unterschiedliche Empfindungen für Ungerechtigkeiten oder ‚Bösartigkeiten‘. Eine zu große Diversifikation würde zum Zusammenbruch der Gesellschaften führen. Also müssen Achtsamkeitsstrukturen vorgegeben sein, die die Fokussierung auf bestimmte gesellschaftstragende Pfeiler erschweren oder verunmöglichen. Eine besondere Variante des in den Gesellschaften des 21. Jahrhunderts geübten Umgangs mit diesen Strukturen ist die Täuschung. Fake-News sind hierfür die aktuell bekannteste Variante. Die Vortäuschung vom freien Gebrauch bestimmter Methoden oder Instrumente ist ein wenig komplexer. Ebenso wie beim Internet ist der Zugang jedem möglich, der Gebrauch ist allerdings völlig subjektiviert und hierdurch wird Freiheit suggeriert. Der Einzelne kann entscheiden, ob er eine Technik nutzt oder nicht. Dabei wird verschleiert, wie der Einzelne zu seinen Fokussierungen gelangt, worauf er seine Aufmerksamkeit lenkt und wofür er achtsam ist. Die ‚Lenkung‘ des Einzelnen durch die gesellschaftlichen Dynamiken ist mittlerweile so verzweigt und unübersichtlich, dass es fast so scheint, als gäbe es keine Einwirkungen von außen.

Achtsamkeit macht schwindelig

Wer sich tatsächlich auf die Übung seiner Achtsamkeit einlässt und sie nicht im Sinne von Wellness nutzt, wird in einen Schwindel geraten. Selbst ein inneres Gerüst von erprobten Werten und Gewissheiten wird durch die vielen Stimuli, Widersprüche und Ungereimtheiten in Verwirrung gebracht werden. Um sich diesen Irritationen trotzdem stellen zu können, bedarf es eines geschlossenen Weltbildes, was jedoch lediglich als Krücke genutzt wird, um es alsbald durch ein erweitertes Konstrukt zu ersetzen. Achtsamkeit führt somit nicht zu einer inneren Ruhe, sondern im Gegenteil zum Lebensprinzip der stetigen Verunsicherung, an deren Ende das völlige Chaos steht. Dieses Chaos ist dabei nicht das Tohuwabohu des Anfangs, sondern die grenzenlose Entfaltung.


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