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Kultur der Digitalität mit theologischer Perspektive

Faszination und Warnungen vor den unkalkulierbaren Risiken der Digitalisierung halten sich die Waage. Das im Frühjahr 2021 erschienene Kompendium „Theologie und Digitalität“ ist ein brandaktuelles Fachbuch, das die Kultur der Digitalität (Felix Stalder) nicht nur analysiert, sondern auch theologisch-anthropologische Erkundungen anstellt, ekklesial-sozialförmig und medienethische Einordnungen anbietet und nach einer angemessenen Rede von Gott im digitalen Umfeld sucht.

Nach Mechanisierung, Elektrifizierung und Automatisierung ist Digitalisierung zum „Zeichen der Zeit“ geworden. Während so viel Gutes getan wird durch die neuesten technologischen Fortschritte, gibt es auch eine größere Gefahr von Cyberattacken gegen Nationen, Unternehmen und Privatpersonen.
Die Dualität von digital und analog sei längst aufgehoben, verwoben und hybridisiert, während christliche Theologien als Wissenschaft tief in die digital-analog-hybride Lebenswelt verstrickt sind. Internet of Things, Dating mit Algorithmen, Remote Working im Hoffice, smart home, Online-Veranstaltungen, Big Data, Artificial Intelligence, deep mediatization sind nur einige Schlagworte, die Phänomene benennen, die der interdisziplinär angelegte Sammelband aufgreift.

Verschiedene Fachrichtungen erschließen die Dimensionen der Digitalität

Soziologen, Philosophen, Religionswissenschaftler, Anthropologen und Theologen, aber auch Designer und Tech-Experten knüpfen an die Vordenker Marshall McLuhan, Manuel Castells, Niklas Luhmann und Armin Nassehi an und vermitteln in 25 Beiträgen einen eindrucksvollen Überblick, was der „Megatrend“ Digitalisierung für Staat, Religion, Wirtschaft, Kultur, Gesellschaft und Alltag bedeutet. Mitten in die Erstellung des Buches fiel die COVID-19-Pandemie, schreibt das Herausgeber-Trio Joachim Valentin, Ilona Nord und Wolfgang Beck. Noch sichtbarer hätte die Pandemie die allgegenwärtige Bedeutung von Digitalität für das Privatleben, die Arbeitswelt, die Forschung und auch das kirchliche Leben gemacht. Die Beiträge des Kompendiums sind Ergebnis zweier Jahrestagungen der Arbeitsgruppe Frankfurter Digitale, welche Akteur*innen aus dem Feld der Digitalen Theorie und Praxis in Kirche und Theologie im Rhein-Main Gebiet regelmäßig zusammenbringt.

Das Medium der jüngeren Jahrgänge

Besonders nah an der Lebenswelt der jüngeren Generation sind die Beiträge zu einer digitalen Anthropologie am Beispiel Spotifys (Jonathan Kropf), die Macht der Bilder und digitaler Bildkulturen bei Instagram und TikTok (Viera Pirker) und den rechnerbasierten Modellen der Partner*innenwahl bei Dating-Communities (Ramón Reichert). Diese Beiträge zu einer verantworteten Medienkompetenz und Identitätsbildung belegen die These von Patrick Dixon („The Future of Everything“), dass das einzige Wort, dass die Zukunft voranbringen wird, EMOTION sei. Beabsichtigte Stimmungen werden gerade in den Social Media sorgfältig konstruiert. Daher wird heute immer mehr anerkannt, dass das, was Menschen FÜHLEN sollen, kongruent zu sein hat, mit dem, was sie DENKEN.

Zeitgemäße Rede von Gott

Als Theologe interessiert mich, wie sich zeitgemäß von Gott reden lässt im digitalen Umfeld. Basiert Erlösung allein auf der Erkenntnis der Wirklichkeit hinter der „Matrix“? Ist Gott ein Demiurg, der eine vollkommen rationale, allein auf Rechnerleistung fußende parasitäre Parallelwelt geschaffen hat? (Joachim Valentin) Folgt auf die Vorherrschaft verschiedener Religionen sowie dem Zeitalter des Humanismus nun der Dataismus, wie der israelische Historiker Yuval Noah Harari im hegelianischen Dreischritt mutmaßt? Welche Auswirkungen hat die Digitalisierung auf den Gottesbegriff und das Menschenbild? Ist aus dem Deus sive natura (Spinoza) ein Big Data sive Deus geworden? (Bernd Trocholepczy und Klara Pišonić). Wenn Christus das körperliche Medium Gottes ist und der Geist Gottes sein durch diese Form bestimmtes Verbreitungsmedium, was ist dann die im Geist Christi leiblich versammelte Gemeinde? Sein Medienkörper? (Christian Danz) Wie kann eine trinitarische Theologie entwickelt werden, die anerkennt, dass die Identitäten menschlicher Personen verletzlich und durchlässig sind, geformt werden durch die Beziehungen zu anderen, zur Welt, zu Gott und im weiteren Sinne zu den digitalen Kräften in hochtechnologischen Gesellschaften? Was ist mit hybriden Identitäten wie dem Cyborg? (Christian Danz) Wie kommt es, dass wir in unserem Sprachgebrauch an der Leitdifferenz von Digitalität und Analogizität festhalten? (Annette Langner-Pitschmann). Was sind unsere Leibsubjekte in post-digitaler Ära? (Charles Ess)

Zukunft: Künstliche Intelligenz (AI)

Luciano Floridi argumentiert, dass Künstliche Intelligenz die vierte „Revolution“ des Selbstbildes der Menschheit ist, welche wie einst Heliozentrismus, Evolutionstheorie und Freud’scher Libidotheorie auch als Kränkung empfunden werden kann, spätestens dann, wenn der Mensch um seine gottgegebene Autonomie fürchtet, wenn nicht mehr er sagt, was die Maschine tun soll, sondern die Maschine dem Menschen. In diesem Zusammenhang böte sich an, auch über das Verhältnis von Kunst und Künstlicher Intelligenz zu reflektieren. Ist Kunst Kunst, wenn sie von AI generiert wird? Hier lässt das Buch noch Wünsche offen. Für alle Theologen und Sozialarbeiter müsste das Kompendium eigentlich Pflichtlektüre sein, weil es hilfreich ist, Zusammenhänge unserer hochkomplexen, post-digitalen Lebenswelt zu verstehen und eine geeignete Sprache für das 3. Jahrtausend zu finden. Wer das Buch mit seinen 524 ganz analogen Buchseiten komplett gelesen hat, wird definitiv überrascht.

Beck, Wolfgang; Nord, Ilona; Valentin, Joachim (Hg.): Theologie und Digitalität. Ein Kompendium. Verlag Herder, Freiburg i. Br., 2021.


Kategorie: Gelesen

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