Kathedrale Amiens, Foto: hinsehen.net

Eins oder Zwei

Wenn wir von Einheit reden, dann meinen wir, dass verschiedene Dinge zu einem Gemeinsamen geworden sind. Tag und Nacht, schwarz und weiß, jung und alt, wir nehmen die Welt in solchen Unterschieden wahr. Was wäre, wenn wir Zweiheit dem Einen vorziehen würden? Wie würden wir die Liebe zwischen zwei Menschen empfinden und verstehen, wenn wir nicht Einheit sondern Zweiheit suchen würden? Die Vorrangstellung der Einheit führt zu einer sehr einseitigen Vorstellung von Konflikten und damit auch zu einem eher zwanghaften Weg zur Verständigung.

Unsere Vorstellungswelt ist davon geprägt, dass wir ein gutes Gefühl mit dem Zusammenkommen unterschiedlicher Aspekte in dem Einem denken. Wir benutzen Begriffe wie Verschmelzung, Einswerden, Übereinkommen, Vereinen, Einheit und ähnliche Formulierungen, die nahelegen, dass in der Zweiheit kein Heil liegt. Ein Paar, das wir uns als glücklich vorstellen, denken wir als eine Einheit. Der Volksmund wusste es jedoch immer schon besser, zwar gibt es den Spruch ‚Gleich und Gleich gesellt sich gern‘, doch genauso gilt ‚Gegensätze ziehen sich an‘. Die Dynamik einer Beziehung gründet sich in der Gegensätzlichkeit, also in der Zweiheit.

Die einseitige Auflösung

Konflikte oder Streitigkeiten entstehen nach unserem Verständnis, wenn zwei unterschiedliche Ansichten aufeinandertreffen und jede Partei bei ihrer Position verharren will. Es wird eine Vereinbarung gesucht, die beide Positionen vereinen könnte.  Entweder findet man zu einem Kompromiss oder sogar zu einem Konsens. In jedem Fall stellen wir uns das Ergebnis der Bemühungen als eine Einheit vor. Selbst wenn man sich darauf einigt, dass zwei Ansichten nicht überein zu bringen sind, hat man in diesem Punkt eine Einheit geschaffen. Es ist für unser Denken schwer vorstellbar, dass eine solche Auflösung gar nicht erstrebenswert sein könnte.

Gewohntes Denken

Das Denken ist abhängig von der jeweiligen Sprache. Es dürfte zum Beispiel einen Unterschied machen, ob es der Mond und die Sonne heißt oder la lune und il sol. In nur wenigen Sprachen wird der Mond als männlich und die Sonne als weiblich vorgestellt. Solche Sprachgewohnheiten und das Spezifische daran sind im Alltag nicht bewusst. So dürfte auch kaum kritisch auffallen, dass wir selige Zustände mit Begriffen beschreiben, die Einheit assoziieren. Aus These und Gegenthese wird eine Synthese. Frieden in einem Land denken wir als eine große Einigkeit. In jeder guten Beziehung, so denken wir, gibt es mal Streitigkeiten, doch das gewünschte Ideal ist es, wenn zwei Partner wie eine Einheit dastehen.

Zweiheit denken

Gehen wir davon aus, dass die Dinge eine Zweiheit darstellen, dann wäre die Suche nach einer Einheit widersinnig. Zweiheit erhält durch ihre Polarität die Spannung aufrecht. Die Suche nach Einheit würde genau dieser Spannung und Dynamik entgegenlaufen. Menschen, die sich im Laufe ihrer Entwicklung nicht als Gegenüber erfahren und damit als Zerstörer von Einheit, blieben in einem infantilen Zustand. Die Reife eines Menschen wird darin gesehen, dass er in der Lage ist, allein zu sein und sich in Zweiheit mit der Mutter sehen zu können. Die ursprüngliche Beziehungsperson kann zur integrierten Objektbeziehung transformiert werden. Damit sind Verschmelzung und Einheit idealisierte Zustände, die eigentlich die Unfähigkeit des Alleinseins bekunden. In der Einheit werden die Gegensätzlichkeiten nivelliert, damit sind jedoch auch die Aktionen der Einzelnen ausgeblendet. Nur wenn Zweiheit gedacht wird, kann der eine Mensch mit dem anderen Menschen teilen, ist die Weitergabe von Traditionen denkbar. Einheit zielt auf einen statischen Zustand, bei dem ein schönes Gefühl vordergründig ist. Wird Zweiheit gedacht, muss der Zwischenraum bedacht werden. Die Gestaltung des Prozesses ist dann die Aufgabe. Eine solche Aufgabe wäre nie beendet, auch die Illusion einer Lösung würde aufgegeben. Das Leben wäre recht anstrengend, das Denken in Zweiheit würde uns jedoch auch vor falschen Hoffnungen und falschen Propheten schützen, die uns mit einer Lösung überzeugen könnten statt uns zum Handeln anzuregen.

Zu diesem Thema lohnt die Lektüre Rainer Marten, 2017. Lob der Zweiheit. Ein philosophisches Wagnis. Freiburg / München: Verlag Karl Alber. 24,00 Euro


Kategorie: Gelesen

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