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Den Menschen ihr wirkliches Leben begreiflich machen

Der 1928 geborene Philosoph Hermann Schmitz gehört zu diesen Akademikern, die in der Welt der Wissenschaften nie eine richtige Anerkennung gefunden haben. Geschrieben hat Hermann Schmitz mehr als 50 Bücher, er ist der Begründer der Neuen Phänomenologie und er hat manche Glaubenssätze der Philosophie sowie Philosophiegeschichte angezweifelt. Dennoch gab es und gibt es auch Fachkollegen, die sich nicht beirren lassen.

Peter Sloterdijk nannte Hermann Schmitz sogar den bedeutendsten lebenden deutschen Philosophen. Und auf der anderen Seite nannte jemand die Situation dieses Philosophen „diskursive Einsamkeit“.

Was kann Philosophie?

Den Auftrag, den Hermann Schmitz für sich sah, lag darin, den Menschen ihr Leben begreiflich zu machen. Das ist die Absicht, gelungen ist es ihm natürlich nicht. Denn erstens ist jemand, der so umfassend gebildet ist wie Hermann Schmitz und seine Sprache geschliffen und geschult hat, für jemanden kaum verständlich, der es nicht gewohnt ist, so zu denken und zu sprechen. Zweitens ist Hermann Schmitz einer größeren Öffentlichkeit kaum bekannt. Drittens hat Hermann Schmitz ein System aufgebaut, dass man zunächst verstehen muss und das ist nicht ganz leicht, weil es zu einem ungewohnten Denken zwingt. Diese Gründe für dieses Nichtverstehen sind nicht sonderlich überraschend und schmälern keineswegs die Bedeutung von Hermann Schmitz. Philosophie verlangt auch Anstrengung, die Bereitschaft, gewohnte Denkweisen aufzugeben und sich auf etwas einzulassen, was banal erscheinen mag und sich erst beim weiteren Durchdenken als mühevolle Ausgrabung erweist. Dann kann Philosophie für das Leben eine Bereicherung sein und es begreiflich machen.

Die unwillkürliche Lebenserfahrung

Hermann Schmitz, geprägt von der Phänomenologie, will zu den Sachen an sich kommen. Dafür müssen die geschichtlich geprägten Verkünstellungen abgebaut und die unwillkürliche Lebenserfahrung zusammenhängender Besinnung zugänglich werden. Ein erster Schritt besteht darin, die Philosophiegeschichte neu zu bedenken. Hermann Schmitz zweifelt so zum Beispiel die Bedeutung Sokrates für eine Wende in der Philosophie an. Es sei vielmehr Demokrit gewesen. Hermann Schmitz hat eine umfangreiche Philosophiegeschichte vorgelegt, die manche liebgewordenen Vorstellungen ins Wanken bringt. Mittelpunkt des Denkens wurde bei Schmitz dann seine Leibphilosophie. Und wer sich auf diese Denkweise einlässt, der fängt an, sein Leben zu begreifen, weil sich Philosophie dann als Leiberfahrung erweist.

Die Konkretheit der Philosophie

„Als Leib eines Menschen oder Tieres bezeichne ich die Gesamtheit all dessen, was jemand von sich (als zu sich selbst gehörig) in der Gegend (nicht immer in den Grenzen) seines Körpers spüren kann, ohne sich der fünf Sinne und des aus ihren Erfahrungen (der habituellen Vorstellung vom eigenen Körper) zu bedienen.“ Diese Vorstellung widerspricht der üblichen durch die Naturwissenschaften geprägten Zugangsweise. Es ist nicht erst Descartes, der die Spaltung in die abendländische Philosophie brachte. Im 5. und 4. Jahrhundert vor Christus ereignete sich dieser Paradigmenwechsel und wurde durch das Christentum und die modernen Naturwissenschaften zum Welt- und Selbstverständnis. Die Philosophie des Leibes eröffnet eine andere Zugangsweise zur Metaphysik und Transzendenz. Das Leib-Seele-Problem stellt sich gar nicht mehr als ein Problem dar, weil Körper und Seele nicht mehr als zwei Einheiten gesehen werden müssen. Philosophie kann konkret werden und schließt Vorstellungen der Metaphysik mit ein. Der Zugang zu einer solchen Leibphilosophie fällt jedoch äußerst schwer, weil unser Alltag, unsere Sprache, die Wissenschaften von einer reduktionistisch-wissenschaftlichen Denk- und Vorstellungsweise bestimmt sind. Beim Lesen der Bücher von Hermann Schmitz stellen sich oft Sperren auf. Dann jedoch weckt die Faszination, zum Beispiel Krankheiten anders sehen zu können, das Interesse. So verwundert es auch nicht, dass viele Psychologen und Mediziner den Wert einer Beschäftigung mit der Leibphilosophie von Hermann Schmitz erkannt haben. Ebenso lassen sich Architektur und Städtebau mit der Leibphilosophie auf eine neue Art erfassen und beschreiben.

Wo fängt man an?

Hermann Schmitz hat 2016 eine Art Biographie vorgelegt, die keine Beschreibung seines Lebens, sondern eine Zusammenfassung seiner Philosophie ist. Die „Ausgrabungen zum wirklichen Leben“ sind aus einer Fülle heraus geschrieben, sodass für Ungeübte manche Stellen und Begrifflichkeiten irreführend und das Verstehen erschwerend sind. Manches mag vielleicht unverstanden bleiben, doch kann der Leser / die Leserin einen guten Eindruck in die Denkweise gewinnen und fängt an, eigene Ausgrabungen vorzunehmen, weil Hermann Schmitz mit diesem Buch den Weg gewiesen hat. Mit „Zur Epigenese der Person“, das 2017 erschien, hat Hermann Schmitz ein „Übungsbuch“ geschrieben, das hilft, die eigene Person zu verstehen. Die Person kommt zur Selbstbestimmung durch Selbstzuschreibung. Dies wird konkret am Schmerz und an der Sucht entwickelt. In „selbst sein. Über Identität, Subjektivität und Personalität“ kommen in ähnlicher Weise Gesundheit, Humor oder Tod zur Sprache. Die Lektüre macht verständlich, dass alle Erfahrung auf ein leibliches Verstehen zurückgeführt werden kann.

Und nach der Lektüre wird man ein anderes Verständnis von seinem Leben haben und das nicht, weil man nun von einer stimmigen Weltanschauung überzeugt ist, sondern weil man eine leiborientierte Sichtweise eingeübt hat.

Thomas Holtbernd

Hermann Schmitz, 2016. Ausgrabungen zum wirklichen Leben.  Eine Bilanz. Freiburg / München: Verlag Karl Alber, 29,99 Euro

Hermann Schmitz, 2015. Selbst sein. Über Identität, Subjektivität und Personalität. Freiburg / München: Verlag Karl Alber, 29,00 Euro

Hermann Schmitz, 2017. Zur Epigenese der Person. Freiburg / München: Verlag Karl Alber, 29,00 Euro

 

 


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