Die Annahme, dass es in unserer Gesellschaft viele Meinungen gibt und vor allem die Freiheit gegeben ist, sich eine eigene Meinung bilden zu können, steht in Gegensatz zu der These, dass die Zahl der Meinungsführer abnimmt und damit möglicherweise Meinungsbildung generell in Gefahr steht. Damit ich mir eine Meinung bilden kann, bin ich auf andere Menschen angewiesen, die im Gespräch, als Buchautor, Wissenschaftler, Journalist, Intellektueller, Künstler, Musiker und vielleicht sogar Politiker einen Anfang machen. Eine Theorie, eine These, eine pointierte Auseinandersetzung stoßen auf Gegenliebe oder provozieren, dagegen Stellung zu nehmen. Habe ich ein bestimmtes Niveau erreicht, suche ich nach denen, die tatsächlich etwas zu sagen haben, also Meinungsführern im entsprechenden Bereich. Habe ich selber ein Format entwickelt, möchte ich meine Meinung an den Mann, die Frau bringen. Ob ich jedoch zu einem Meinungsführer werde, ist an bestimmte Bedingungen geknüpft und möglicherweise mehr von Zufällen abhängig als ich wahrhaben will.
Die Auswirkungen der kurzen Wege
Es ist ein Phänomen, was sich nicht nur auf die Bildung oder den gesellschaftlichen Diskurs bezieht. Viele Bereiche des gesellschaftlichen Lebens kennzeichnet ein ganz banaler Mechanismus. Die Möglichkeiten haben sich gesteigert. Musste früher ein Herold erst zum Marktplatz reiten, um dann die Kunde vorzulesen, so ist dieser Aufwand heute fast belanglos geworden, es reicht ein Knopfdruck. Die Transportwege für Informationen haben sich enorm verbilligt und verkürzt. Es müssen nicht erst die Letter ausgesucht, gesetzt und dann die Zeitung gedruckt werden. Jeder User kann schnell ein paar Zeilen eintippen und schon verbreitet sich eine Nachricht in Windeseile. Die mögliche Menge an Meinungsmachern wächst durch die Digitalisierung ins Unermessliche. Gleichzeitig bin ich nicht auf den klugen Menschen in meiner Nachbarschaft angewiesen, ich kann auf die Informationen der Großen zugreifen. Dies bedeutet, dass die Zahl der Meinungsmacher sinkt. Es ist auch kaum überraschend, dass autokratische Politiker mehr in den Fokus der Aufmerksamkeit gelangen. Die Folgen der Globalisierung kann man an der Machtkonzentration der multinationalen Konzerne festmachen, man kann jedoch auch überlegen, wie schlichtweg der Blick für das Nahliegende verlorengeht. Der redlich bemühte Journalist der regionalen Zeitung konkurriert nicht mit dem Journalisten der anderen noch existierenden Zeitung, sondern mit den Großen, die in den Medien oft vertreten sind. Der regionale Journalist liefert Informationen, trägt zur Meinungsbildung jedoch kaum noch bei. Es findet wie bei den Unternehmen eine Konzentration auf einige wenige statt. Auch der Handwerker vor Ort hat kaum eine Chance, weil er gemessen wird an dem, was an Standards und Leistungen anderer Betriebe durch das Internet gefunden werden kann. Die kurzen Wege machen einen schnellen Vergleich möglich und der Anspruch steigt. Hiermit wird gleichzeitig suggeriert, dass jemand, der es so weit gebracht hat, besonders befähigt ist und eine gute Leistung erbringt. Dass ein Ranking manipuliert und beeinflusst werden kann, ist jedem User klar. Also richtet sich seine Aufmerksamkeit darauf, wie er möglichst authentische Urteile über eine Leistung oder Meinung finden kann.
Die Illusion von Erfolg
Das Bemühen um eine realistische Einschätzung des Rankings verdeckt den Blick auf die Zufälligkeit von Erfolg. Natürlich hat jemand, der als Meinungsbildner bekannt geworden ist, Fähigkeiten trainiert, sich Wissen angeeignet und das Argumentieren erlernt. Es reicht jedoch nicht als Erklärung dafür aus, dass gerade er es an die Spitze geschafft hat. Durch die Digitalisierung und technischen Möglichkeiten könnten es sehr viele Begabte an die Spitze schaffen. Der Faktor Zufall spielt jedoch bei der immensen Vielfalt eine immer größer werdende Rolle. Würde ich die Meinung vertreten, dass meine Meinung rein zufällig meinungsmachend geworden ist, wird meine Leistung unbedeutender. Warum soll ich mich also für die Entfaltung meiner Meinung anstrengen? Um Meinungsführer zu werden, strenge ich mich an, dem Zufall auf die Sprünge zu helfen. Meine Meinung wird dann dünner und mein Pochen darauf, dass ich eine große Leistung erbracht habe, wird lauter. Denn der Grund „Zufall“ befriedigt nicht mein Selbstwertgefühl. Wenn ich als Meinungsmacher mehr Zeit darauf verwende, dem Glück nachzuhelfen, dann ist meine Meinung weniger komplex und differenziert. Weil ich aber durch Zufall zum Meinungsführer geworden bin, schulen sich andere an einer weniger gut entwickelten Meinung und halten einfachere Erklärungen für ausreichend.
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