Blick richten, Kathedrale Amiens, Foto: explizit.net

Die virtuelle Welt ist wie ein Brett vor dem Kopf

Kritik an der Entwicklung des Internets, der Digitalisierung und der Massenmedien lässt sich aus verschiedenen Perspektiven angehen. Die Digitalisierung lässt sich als perfekte Weiterentwicklung des Konsumismus deuten, der Konsument ist vor seinem Rechner oder mit seinem Smartphone isoliert, die soziale Außenwelt dient nicht mehr als Korrektiv. Eine andere Perspektive fokussiert sich auf die Auswirkungen, dass zum Beispiel durch die Inhalte Aggressionen gefördert werden können oder sich aus der Informationsflut heraus eine Abwehr gegen Informationen entwickelt. Eine dritte Betrachtungsweise bezieht sich auf die durch das Internet gegeben Möglichkeiten der Manipulation etwa durch Bubble-Effekte, dass der User nur noch die Informationen erhält, die seine Ansichten bestärken.

Ein sehr auffälliges Phänomen des Umgangs mit der Digitalisierung ist die verzerrte Risikowahrnehmung. Zahlreiche Studien, die Manfred Spitzer zusammengetragen und kommentiert hat, belegen zum Beispiel sehr eindeutig einen negativen Einfluss auf die Entwicklung des kindlichen Gehirns. Dennoch beeilen sich Politiker mit ihren Beteuerungen, in den Schulen die Digitalisierung massiv fördern zu wollen. Aus der Risikoforschung weiß man, dass die objektive Gefahr selten realistisch eingeschätzt wird. Die subjektive Gefahrenwahrnehmung ist von den Möglichkeiten der Selbststeuerung bestimmt. Wer ein Fahrzeug steuern kann, fühlt sich sicherer als derjenige, der als Passagier mitfährt. Die Fahrt mit dem Auto ist wesentlich gefährlicher als eine Flugreise. Mehr Menschen haben jedoch Angst, in ein Flugzeug einzusteigen. Überträgt man die Erkenntnisse der Risikoforschung auf den Umgang mit den digitalen Medien, so wird deutlich, dass die subjektive Einschätzung einer Gefahr von der objektiv gegebenen Möglichkeit des Steuerns beeinflusst werden dürfte. Der User kann jederzeit wegklicken. Ein Risiko wird demnach nicht empfunden.

Die Schamgrenze

Im Internet ist es möglich, ohne konkreten Menschen zu begegnen, vor denen man sich vielleicht schämen würde, Inhalte aufzurufen, die Tabugrenzen überschreiten. Der pubertierende Junge, der sich am Zeitungsstand einen Playboy kaufen will, muss sich erst überwinden, überlegt sich, wie er es anstellen kann, cool zu wirken. In einen Sexshop zu gehen, ist mit der Gefahr verbunden, vielleicht von Bekannten gesehen zu werden. Im Internet ist diese Gefahr subjektiv nicht gegeben. Hier ist ein wenig Kenntnis ausreichend, um die entsprechenden Seiten zu finden. Scham beeinflusst dieses Handeln wohl kaum. Eine Korrektur durch einen anderen Menschen findet nicht statt. Werden Inhalte gesperrt, so handelt es sich nicht um eine Konfrontation mit einer anderen Meinung, die Inhalte sind einfach nicht verfügbar. Das Argument, es gäbe auch positive Dinge im Internet, bezieht sich auf eine Bewertung der Inhalte. Scham hat allerdings nichts mit den Inhalten zu tun, sondern mit der eigenen Bewertung und der angenommenen oder tatsächlichen Diskrepanz zwischen der eigenen und der Bewertung anderer. Das Internet lässt ein Agieren zu, das eine Bewertung der Inhalte in Konfrontation mit einem anderen Menschen als Erfahrung vom Risiko des Schämenmüssens ausschließt.

Digitalisierung und Mitwelt

Internet und Medien können nicht allein auf sich bezogen analysiert werden. Der User wird in immer kürzer werdenden Abständen mit technischen Neuerungen konfrontiert. Der Einfluss, den er nehmen kann, umfasst zahlreiche alltägliche Situationen. Mit dem Smartphone können im Urlaub in der zurückgelassen Wohnung Rolläden, Leuchten usw. ein- und ausgestellt werden. Die Heizung kann bedient werden. Online-Banking ist mittlerweile Normalität. Der User hat seine Fotoalben, seine Musikbox immer dabei. Und mit dem Smartphone lässt sich das Auto steuern. Der Alltag wird so gestaltet, dass Verknüpfungen mit dem Smartphone möglich sind. Auch die menschlichen Begegnungen müssen so gestaltet sein, dass peinliche Situationen nicht auftreten können, da Scham hemmt und die grenzenlose Nutzung des Internets zumindest zeitweise blockieren würde.

Die virtuelle Welt verhindert das Sehen

Obwohl die digitale Welt vor allem mit dem Bildhaften assoziiert wird, ist sie nicht tatsächlich mit dem Sehen verbunden. Sehen ist der Erzählung vom verlorenen Paradies folgend die Erkenntnis des Nacktseins. Jedes Sehen ist ein Blick ins Andere oder ins Angesicht des Anderen. Dieser Blick setzt das Gegenüber voraus, das den Blick bewerten kann, auch wenn es lediglich eine Vermutung ist.  Hierdurch ist das Risiko des Schämens gegeben. Das Dialogische, das einem Kommunikationsmedium innezuwohnen scheint, ist virtuell, es ist reglementierbar. Die Digitalisierung ist vom „Wesen“ her 0 und 1, eine klare Entscheidung, die in sich keine Dynamik enthält. Das Sehen als Blick enthält in der Möglichkeit des Schämens den Impuls zur Weiterentwicklung, aus dem Entweder-Oder kann sich ein Drittes ergeben. Daher ist die virtuelle Welt wie ein Brett vor dem Kopf, weil sie den Dialog mit der Mitwelt als steuerbar suggeriert und das Sehen letztendlich auf die Aufnahme von Informationen verkürzt.


Kategorie: Digitalisiert

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