Ein Gespräch mit vier Absolventen.
Ein Gespräch mit Lia, Theresa, Leander und Paul am Pfingstmontag 2019 kam zu den hier festgehaltenen Beobachtungen. Es ist dringend notwendig, die Schüler anders auf ihre Lebens- und Berufswelt vorzubereiten. Diese ist deshalb schon anders geworden, weil ein Großteil des Wissens, das man früher im Kopf haben musste, im Internet abrufbar. Sich Wissen anzueignen, erscheint nicht mehr ausreichend, um die Herausforderungen der Berufswelt zu bewältigen. Deshalb kann das Gelernte wieder vergessen werden. Eine Schule, die in den vielen Prüfungen Fakten abfragt, kann zwar die Leistungen der Schüler einfacher bewerten, aber die Schüler ahnen, dass sie etwas Anderes brauchen. Sie werden in einer Berufswelt arbeiten, in der die Künstliche Intelligenz viele Arbeitsplätze ersetzen wird. Weil sie ahnen, dass die Schule nicht das vermittelt, was die zukünftige Berufswelt ihnen abverlangt, sind sie weniger „bei der Sache“. Sie haben sich einen bestimmten Lernmodus angeeignet, wie sie mit dem Lernangebot der Schule umgehen:
Das Bulimie-Lernen
Mit diesem Lernmodus erklären sie, warum sie nach dem Abitur noch Zeit brauchen, um sich für ein Studium oder eine Ausbildung zu entscheiden. Die große Auswahl an Ausbildungs- und Studiengängen erschwere die Entscheidung. Als Haupthindernis wurde jedoch die Art des Lernens genannt, die ein Jahr der Orientierung notwendig macht, nämlich „etwas schnell in den Kopf zu bekommen, es auszuspucken und dann zu vergessen“. Dieses Vergessen setze direkt nach Abgabe einer Klassenarbeit ein. Den Lehrern sei das bekannt.
Als ein Zwischenergebnis kann festgehalten werden: Die Lernform, die die Schüler praktizieren, vermittelt nicht die Urteilskraft, aus der Vielzahl der Möglichkeiten die auszuwählen, die zu den eigenen Begabungen und Erwartungen passt. Als Grund nennen sie das Interesse der Schule wie der Lehrer, mit ihren Schülern einen guten Notendurchschnitt zu erzielen. Das haben sie auf die folgende Formel gebracht:
„Lerne das, mach die Prüfung und dann geh!“
Die Lehrer wären durch das System geprägt, das viele Abiturienten mit guten Noten verlangt. Es geht also nicht darum, was im Kopf der Schüler entsteht, sondern um das Image der Schule und des einzelnen Lehrers. Diese Systemumstellung vom Schüler weg auf den Erfolg der Schule hin wird durch das Zentralabitur ermöglicht. Gleiche Aufgaben für alle Abschlussklassen und möglichst gleiche Bewertung der Arbeiten sind die Voraussetzung, dass das Abitur zum Erfolg der Schule und nicht der Schüler geworden ist. Es geht also nicht um das Lernergebnis, sondern darum, einen guten Notendurchschnitt nach außen zu präsentieren.
In einem solchen Lernumfeld entsteht kein Nachdenken über die Relevanz eines Faches und auch wenig Interesse an den Inhalten. Es sei bei den meisten so, dass sie in der Schulzeit noch nicht herausgefunden haben, was sie einmal machen werden. „In der Schule wird man wie ein Kind behandelt.“
Persönlichkeit tritt hinter die Inhalte zurück
Einhellig war die Antwort auf die Frage, was ihnen helfen würde, um zu einer Entscheidung zu kommen: Persönlichkeitsförderung. Die Festlegung auf einen Studien-oder Ausbildungsgang ist eine Entscheidung, die eine Person trifft. Mit dieser Entscheidung werden Chancen wahrgenommen, aber zugleich viele ausgeschlossen. Die Entscheidung birgt viele Risiken, nämlich ob die Qualifizierung trägt, ob man sie sich zutrauen kann und ob sie ein auskömmliches Leben garantiert. Durch das Bulimielernen können die Absolventen einer deutschen Schule kaum abschätzen, ob sie das angestrebte Studium schaffen werden. Dazu gab es folgende Einschätzungen:
Sich ein Studium zutrauen
Das Phänomen, dass viele Studierende das Fach wechseln oder eine Ausbildung abbrechen, sehen sie vor allem darin begründet, dass die Wahl des Studienfaches oder einer Lehre nicht aus innerer Überzeugung gewählt wurde. Dann breche man bei Schwierigkeiten ab. Sie gehen deshalb nicht mit freudigem Elan an die Universität, weil sich die hohe Rate der Studienabbrecher herumgesprochen hat. In einzelnen Fächern, so bei Lehramtsstudenten liegt sie sogar bei 50%, wie eine Studie für Mecklenburg-Vorpommern ergeben hat.
Die Einschätzung, dass es so viele sind, zeigt, dass der Schule nur ansatzweise die Vorbereitung auf ein erfolgreiches Universitätsstudium zugetraut wird. Die Beobachtung lähmt viele, sich bereits in der Schule gründlicher in ein Fach zu vertiefen. Aber genau aus der gründlichen Beschäftigung mit einem Thema, wenn sie einen schwierigen Stoff bewältigt hätten, nehmen sie die Sicherheit mit, den Anforderungen der Universität gewachsen zu sein. In den Prüfungen würden sie aber zu wenig vor schwierige Aufgaben gestellt, weil die Lehrer nicht das Risiko eingehen wollen, Arbeiten schlecht zu bewerten.
Der Computertest als Berufsberatung durch das Arbeitsamt
Beratungsangebote, z.B. durch das Arbeitsamt, waren bekannt. Es gibt auch einen Beratungstag in der Schule, der aber nicht motiviert hat, Beratungsangebote zu nutzen. Ein Grund war ein Computerprogramm, in dem die Schüler Formulare ausfüllen konnten. Nicht in einem Gespräch, sondern vom Bildschirm erhielten sie dann Vorschläge, welche Berufe für sie infrage kommen. Nur wenige konnten erkennen, dass diese Vorschläge auf ihre Begabungen und ihre Interessen abgestimmt waren. Auch hier wurde Interesse an der Person vermisst, dass jemand versteht, wie schwer es falle, zu einer Entscheidung zu kommen. Die unpersönliche Behandlung wurde als abweisend erlebt.
Eine Welt, die sich nicht bessert
In welche Welt brechen sie auf: „Es wird alles schwieriger und teurer“.
Wenn man Geld verdienen will, muss man sich eingliedern. „Überleben kann man immer, wenn man sich eingliedert.“ Sie wissen kaum etwas von der Berufswelt, wohl auch deshalb sind die Arbeitsbedingungen für sie nicht verlockend. Sie beschrieben die Entscheidungssituation so: Man kann nur versuchen, den Zwang, Geld zu verdienen, mit einer Arbeit zu verbinden, die „Spaß macht.“ Wie auch für frühere Generationen gibt es Berufe, die einem persönlich mehr zusagen, die aber wegen zu geringer Verdienstmöglichkeiten oder einem höheren Risiko nicht gewählt werden.
Die Arbeitsbedingungen werden skeptisch gesehen. Praktika geben Einblick in den Umgang der Vorgesetzten mit den Mitarbeitern. Hier gibt es eher negative Erfahrungen. Der allgemeine Eindruck: Ehe man selbst etwas zu sagen hat, ist man Chefs ausgeliefert, die anordnen und bei geringer Bezahlung vollen Einsatz fordern. Dass der Beruf Gestaltungsmöglichkeiten eröffnet, dass etwas locken könnte, kam im Gespräch fast nicht zum Ausdruck. Alle Vier stimmen in der Beurteilung überein, dass nicht technische Probleme die Arbeitsbedingungen beeinträchtigen, sondern menschliche. Insgesamt wird die Arbeitswelt nicht als verlockend gesehen.
Schlussfolgerung: Die Schule braucht einen Perspektivwechsel
Das lernende Subjekt muss im Vordergrund stehen, nicht das in den Lehrplänen vorgeschriebene Wissen. Lernen im Zeitalter von Internet und Künstlicher Intelligenz kann sich nicht mehr zuerst an den Inhalten orientieren. Warum sollen die Schüler etwas gründlich durcharbeiten, wenn es beim Eintritt in die Berufswelt schon überholt ist. In dem Gespräch wurde auch die Vermutung ausgesprochen, dass die Lerninhalte, die die Schule vermittelt, für die spätere Berufspraxis kaum relevant sind.
Beim Scheiben stellte sich für den Autor das melancholische Grundgefühl ein, das auch das Gespräch durchzog. Es könnte alles viel besser sein und das würde gar nichts anderes erfordern, als dass die Persönlichkeit der Schüler an die erste Stelle gerückt wird. Dann würden die Ausbildungs- und Studienwelt sowie eine spätere Berufstätigkeit nicht nur als ein sinnvolles Muss gesehen, sondern als Einladung, etwas zu gestalten und seine Begabungen und seine Kreativität einzubringen. Wenn mit der Künstlichen Intelligenz noch mehr an die Computer delegiert wird, dann liegt diese Schlussfolgerung auf der Hand. Insgesamt können die Schüler und Schülerinnen sehr genau sagen, was die Ursachen dafür sind, dass die Schule sie nicht auf eine Entscheidung für einen Berufsweg vorbereitet und warum das Abitur nicht mehr die Sicherheit bietet, ein Studium erfolgreich abzuschließen. Der Autor kommt zu der Frage, warum die vielen erziehungswissenschaftlichen Lehrstühle nicht die Schüler fragen. Wahrscheinlich verteilen sie wie die Arbeitsagentur Fragebögen, die an der Sache vorbeigehen. Der Autor dieses Beitrags hat vier Abiturienten getroffen, die nicht nur sehr gut die Lernsituation beschreiben konnten, sondern auch, was die Schule leisten muss, damit sie auf ein Studium und einen Berufsweg vorbereitet. Wie gelangt das Wissen wie die Urteilsfähigkeit der Schüler in die Köpfe derjenigen, die über die Gestaltung des Lernorts Schule entscheiden? Weder die Erziehungswissenschaften noch die Beamten in den Ministerien, noch die Parlamentarier scheinen die konkrete Schule zu kennen. Haben sie alle keine Kinder? Weiter über die Schule zu schimpfen, nutzt den Schülern nicht.Und hätten nicht die Lehrer eine sehr viel interessiertere Schülerschaft.
Schule für das Zeitalter der Künstlichen Intelligenz
Die Verantwortlichen, die jetzt den Schulalltag bestimmen, könnten sich ganz einfach fragen, auf was diese Generation reagiert, die jetzt eine weittragende Entscheidung für das eigene Leben treffen soll. Warum ergreifen die Abiturienten nicht ihre Chancen, sondern bleiben abwartend? Zwei Punkte seien hier genannt
Es sind immer noch die Konzepte der Aufklärung wirksam, konkret für die Schule wie auch für die Weiterbildung besagen sie:
- Der Mensch muss nicht das Handeln erlernen, sondern kann das „von selbst“, wenn ihm das notwendige Wissen bereitgestellt wird. Wir liefern den Stoff für die Verstandesarbeit, diese „Arbeit“, heute Wissensmanagement genannt, erledigt der Verstand problemlos. Die vier jungen Leute setzen den Akzent ganz anders:
Vorrangig ist die Persönlichkeitsentwicklung deshalb, weil bei der Datenflut nur das behalten und angeeignet wird, das die Person als wichtig ausgewählt hat. Das galt auch schon für frühere Generationen, nur verlangt das Internet mehr Entscheidung, was behalten werden soll und was vergessen werden kann. Die Funktion von Wissen hat sich verändert. „Alles, was das Internet weiß“, kann ich mit ein paar Klicks finden. Damit wird die Curriculum-Organisation des Lernens hinfällig. - Curriculum war ein Schlüsselbegriff der Bildungsreform der siebziger Jahre.
Die Gliederung des Lernstoffs in kleine Schritte sollte die logische Abfolge der Lernschritte garantieren und damit sicherstellen, dass in Befolgung der Lernschritte der Stoff angeeignet wird. Nun entspricht diese Denkweise der Konstruktion von Computersoftware und Algorithmen. Die jungen Gesprächspartner reagierten auf diese Konzeption, die bis heute hinter den Lehrplänen steht, mit der Aussage: Wir sind doch keine Maschinen.
Aus der Darstellung der Zusammenhänge lassen sich einige Umorientierungen ableiten
- Das Lernen von der Person und nicht vom Inhalt her konzipieren. D.h. das Curriculum-Denken aufgeben und den Stoff auf die Lerntypen hin vermitteln, um dem einzelnen zu helfen, sich etwas anzueignen. Nicht das Wissen ist entscheidend, sondern mit dem Wissen umgehen zu können. Genau das leisten Google und auch die Künstliche Intelligenz nicht.
- Den Zugang zum Internet voraussetzen und auch zulassen. Die Notwendigkeit, viel im Gedächtnis zu speichern, ist nachrangig geworden. Vielmehr geht es darum, mit dem vorhandenen Wissen umzugehen. Das führt zu anderen Aufgabenstellungen. Lesen, Schreiben und Rechnen müssen stärker gewichtet werden, denn das bringt einem Google nicht bei.
Lesen, das Gelesene zu verarbeiten, sich mit einem größeren Wortschatz auszudrücken, mit Zahlen und Größen umzugehen, diese Kompetenzen sind für jede spätere Berufstätigkeit entscheidend. Als Zielvorgaben für den Unterricht ergeben sich: - Umgang mit Wissen, Zuordnen, Perspektiven abschätzen, selbst schreiben, gestalten sind vorrangig und müssen den Primat, Wissensinhalte abzufragen, ersetzen. Die Schule muss heute die Fähigkeiten aufbauen, die das Zeitalter der Künstlichen Intelligenz abfordern wird.
Deshalb gab es in dem langen Gespräch wohl die ständige Grundmelodie: Mehr Kreativität, mehr in die Fähigkeit zu gestalten investieren, als Wissen zu speichern und wiederzugeben.
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