Bettchen in einem Kindergarten in der Ukraine, Foto: Pixabay Taken

Wie leben die Ukrainer im Krieg

Maria Karapata hat uns einen Bericht über den Kriegsalltag in ihrem Land geschrieben. Die Infrastruktur ist erheblich beschädigt, so dass Strom und Wasser über Stunden abgeschaltet werden. Ihr Bericht vermittelt auch, unter welcher nervlicher Anspannung die Flüchtlinge hier stehen.

Wahrscheinlich hat sich kaum jemand vorgestellt, dass so ein grausamer Krieg im 21. Jahrhundert in Europa ausbrechen könnte, wie sich am 24.Februar in der Ukraine entfaltet hat. Dabei muss man aber deutlich verstehen: der Krieg in der Ukraine hat tatsächlich schon im März 2014 angefangen, als Russland die ukrainische Halbinsel Krim annektiert hat und später die regulären russischen Truppen die östliche Grenze der Ukraine überschritten haben. Dafür nutzten die Weltmedien verschiedene Begriffe, wie Antiterroristische Operation, Ukraine-Konflikt oder Ukraine-Krise. Seit dem 24. Februar hat kaum jemand Zweifel daran, dass es um die tatsächliche russische Invasion der Ukraine geht. Die Realität von den Ukrainern und Ukrainerinnen unterscheidet sich je nach Gebieten erheblich, aber es gibt keinen einzigen Menschen in der Ukraine, der vom Krieg nicht betroffen wäre.

Unterschiedliches Leben im gleichen Land

Mykolajiw, Cherson, Charkiw, Saporischschja, Dnipro, Donezk, Luhansk – das sind die Gebiete, die entweder ganz nah an der Frontlinie liegen oder teilweise von russischen Truppen besetzt sind. Die Menschen in den Regionen erleben täglich Raketenangriffe. Die zerstörten Unternehmen, Industrie- oder Infrastrukturobjekte wurden zum Alltag wie auch die menschlichen Verluste. Beispielsweise ist Mykolajiw, der südliche Vorposten der Ukraine, seit April ohne Trinkwasser. Die Stadt lebt vom gelieferten Wasser aus Odessa oder speziellen Verteilungspunkten, an denen man Wasser bekommen kann. Im nordöstlichen Bezirk Saltivka in Charkiw kann man kaum ein nicht zerstörtes Gebäude finden, viele Charkiwer aus anderen Stadtteilen bleiben in ihrem Zuhause.
Über das Leben auf den russisch besetzten Gebieten können wir nur Vermutungen machen oder die Geschichte von den Menschen, denen es gelang, von den Territorien zu fliehen, nacherzählen. Die ganze Welt war schon einmal von der Grausamkeit und totaler Unmenschlichkeit erschüttert, als die russischen Truppen Kyjiwer Gebiete verlassen haben. Genauso wie in Butscha oder Irpin wurden die Menschen gefoltert, vergewaltigt oder getötet. In den befreiten Städten wie Isjum, dem Gebiet von Charkiw, Lyman, im Donezk-Gebiet wurden Massengräbern gefunden. Nach dem Abzug von russischen Truppen aus Cherson wurde klar, dass das Energiesystem der Stadt komplett zerstört ist. Das ukrainische Kulturerbe aus Museen haben die Russen geklaut, ganz zu schweigen von den menschlichen Opfern, über die Berichte in die Massenmedien gelangen. Jetzt wurde Cherson zum Ziel der ständigen russischen Beschießungen. So sehen die echten Spuren der russischen Welt aus.

Kriegsregeln landesweit

Wegen des Kriegsrechts, das seit dem 24. Februar landesweit gilt, gibt es viele Beschränkungen, so die Ausgangssperre am Abend und in der Nacht, von 23-24 Uhr bis 5-6 Uhr. Um sich in dieser Zeit draußen aufhalten zu können, muss man eine spezielle Bescheinigung dabeihaben. An den Universitäten sowie den Schulen wird jetzt auch online unterrichtet. Damit die Kinder und Studenten die Ausbildungseinrichtung vor Ort besuchen können, muss die Schule bzw. die Universität einen Luftschutzbunker haben. Während der Luftalarms schließen alle Geschäfte, die U-Bahn-Stationen dienen als Schutzbunker. 

Luftangriffe, vor allem im Osten des Landes

Die Städte, die von der Frontlinie weiter entfernt sind, leiden nicht so stark und nicht so oft unter den Luftangriffen. Im Oktober und November wurde durch die massiven russischen Angriffe die Energieinfrastruktur der Ukraine allerdings schwer beschädigt. Derzeit kommt es in vielen Gebieten zu geplanten oder ungeplanten Ausfall von Strom- und Wasser, die bis zum 12-16 Stunden dauern können. Der komplette Blackout, den die Ukraine Ende November erlebt hat, wurde für die ganze Bevölkerung zur landesweiten Herausforderung. Die Menschen hatten keinen Strom, kein Wasser und keine Heizung. Die Mobilfunkverbindung wurden unterbrochen, sodass man nicht einmal die Nothilfe anrufen konnte. Die einzelnen “Rettungsinseln” existierten im Stadtzentrum oder in einzelnen Cafés, die dank ihrer Generatoren Strom hatten. Da konnte man wenigstens ins Internet und sich aufwärmen. Nach diesem Blackout hatte niemand Zweifel daran, dass auf die Ukraine der äußerst komplizierte Winter wartet. An der Frontlinie kommt Russland nicht voran, es verliert sogar eroberte Territorien. Sie können nur den „Energieterror“ weiter treiben. In der Ukraine sagt man: “Ohne Licht, ohne Wasser, aber das Wichtigste, ohne Russen”. Das zeugt davon, dass selbst die harten Lebensumstände uns nicht dazu zwingen aufzugeben. 

Herausforderungen für die Flüchtlinge

Die Ukrainer und Ukrainerinnen, die ausgereist sind, haben unterschiedliche Gründe. Einige sind buchstäblich in Hausschuhen und Sporthose aus dem Haus rausgelaufen, einfach so in den Bus reingesprungen und weggefahren. Andere haben existenzielle Angst, was durch den täglichen Luftalarm und Raketenangriffen leicht zu erklären ist. Andere Menschen sind überhaupt Zuhause geblieben und versuchen, ihren Kindern das normale Leben zu ermöglichen. Einerseits sind die Ukrainer im Ausland keinem Lebensrisiko unterworfen, andererseits müssen sie unterschiedliche Herausforderungen meistern, von der Fremdsprache bis zu Heimweh und Trennung von der Familie und dem Freundeskreis. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass es psychologisch im Ausland sogar schwieriger ist. Jede Nachricht wird direkt registriert und kann gar nicht sachlich beurteilt werden. Man sit sofort genervt und gestresst, wenn Familienmitglieder nicht erreichbar sind. 

Surreales Leben

Der Alltag von Ukrainern und Ukrainerinnen ist verschiedenartig geprägt. Einige sitzen rund um die Uhr in den Kellern, andere gehen zur Arbeit ins Büro. In besetzten Gebieten ist man gezwungen, Kinder in die russische Schule einzuschreiben, in anderen baut man Unterkünfte für die Binnenflüchtlinge auf, in dritten wacht man von den Explosionen auf. Man kann auf die sozialen Netzwerke von Ukrainern gehen und die ganze Palette von unserem jetzigen Leben beobachten: die zerstörten Häuser nach dem nächtlichen Raketenangriff, schöner Herbst im Park, Kontonummer Überweisungen an die ukrainischen Soldaten, Geburtstagsfeier, Zahlen der nach Russland deportierten Kinder, Memes über den Krieg. So eine surreale Realität herrscht jetzt in der Ukraine. Wir leben weiter, bringen die Kinder zur Welt, arbeiten, verlieben uns, dabei trägt aber jeder zu unserem Victory bei. Die ukrainischen Streitkräfte erobern die ukrainischen Territorien zurück, einige Menschen kehren nach Hause zurück, aber jeder weiß, dass wir für den kleinsten Schritt zu unserem Sieg einen enormen menschlichen Preis zahlen.


Kategorie: Verstehen

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