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Was sich so auftut

Ein Blick, ein Bild tut sich auf. Wir sehen etwas, hören, schmecken oder spüren etwas und sind uns über das sicher, was wir wahrnehmen. Ein zweiter Blick, der auf etwas fokussiert ist, was wir noch gar nicht bewusst bemerkt haben und dieser zweite Blick scheint etwas anderes zu erkennen. Wir glauben, uns getäuscht oder zumindest zu unaufmerksam hingeschaut zu haben. Bei einer Überprüfung unserer scheinbaren Täuschung, sind wir mehr verwirrt als aufgeklärt. Unser Gehirn, so denken wir vielleicht, will sich nicht festlegen. Forschungen zu unserer Wahrnehmung legen hingegen nahe, dass unser erster Blick „richtiger“ war.

Die Umstände zu verstehen, warum wir bei einem zweiten Blick über das zunächst Wahrgenommene verwirrt sein können, ist eigentlich recht leicht. Unser Gehirn nimmt die Daten auf und verarbeitet sie. Je früher wir diese Informationen abrufen, desto genauer sind sie ein Abbild der äußeren Realität. Allerdings kann es dabei auch vorkommen, dass wir den Input nicht kennen und daher nur schwer Assoziationen zu Bekanntem herstellen können. Erst die weitere Verarbeitung liefert uns ein kohärentes Deutungsschema. Es ist dann aber nicht mehr ein getreues Abbild, sondern schon ein Konstrukt. Auf den dritten Blick wird uns diese Diskrepanz deutlich und wir stellen möglicherweise fest, dass der zweite Blick ungenauer war, weil schon eine Analyseprozess das Wahrgenommene geordnet und in eine Reihenfolge gebracht hat. Was wir kennen, rückt in den Vordergrund, wird also fokussiert oder das völlig Unbekannte wird unkritisch mit Bekanntem verbunden, damit eine mögliche Gefahr, die von dem Unbekannten ausgehen könnte, gebannt wird.

Der Schutzreflex

Kommen wir in einen Raum, in dem sich mehrere Menschen aufhalten, erkennen wir sofort die Person, die ein „böses“ Gesicht hat. Lächeln alle anderen, so „sagt“ uns unser Verstand: Die Menschen sind doch alle nett hier. Wir haben bewusst gar nicht mitbekommen, dass unsere Augen die Personen gescannt und die „Gefahr“ erkannt haben. Würden wir diesen Vorgang nachdenkend und bewusst vollziehen, könnte es schon zu spät sein. Die Biologie hat Tier und Mensch so ausgestattet, dass bei Gefahr die Reaktionen wie Reflexe ablaufen können. Richtige Wahrnehmung in diesem Sinne, also der erste Blick, kann man die spontane Erkenntnis nennen, die automatisch zu Reaktionen führt, die den Menschen vor Gefahren schützt und Flucht- oder Kampfbereitschaft auslöst.

Das nachfolgende Denken

Dass die unwillkürlichen Reaktionen bezogen auf archaische Muster sind, erklärt sich durch das Gewordensein des Menschen im Laufe der Evolution. Unsere Erfahrungen und deren Verarbeitung können uns gelehrt haben, dass weitere Aspekte zu berücksichtigen sind. Sehen wir im Karneval einen Jecken, der sich als bedrohlich wirkenden Seeräuber verkleidet hat, ist unsere erste Reaktion Angst. Da wir allerdings wissen, dass wir uns im Karneval befinden, kommen wir im zweiten Schritt dazu, diesen ersten Impuls als unberechtigt zurückzuweisen. Was wir als ersten Blick meinen gemacht zu haben, ist oft der in dieser Weise verarbeitete Vorgang des Gesehenen mit anderen Faktoren. Unser Denken geht dem Wahrnehmen hinterher und das bereits verarbeitete Wahrgenommene wird von uns mit dem reinen Aufnehmen von Informationen verwechselt. Um zu einem objektiven Bild zu gelangen, müssten wir uns die Vorgänge direkt bei der Reizaufnahme bewusst machen. Dies ist allerdings nicht möglich, da unsere Wahrnehmung schon nach bestimmten Mustern und Gesetzmäßigkeiten abläuft. Die Gestalttheoretiker oder -psychologen haben solche Zusammenhänge erforscht und die Gestaltgesetze aufgestellt. Das bekannteste Gesetz ist das von der guten Gestalt. Danach nehmen wir nicht einzelne Daten auf, sondern verbinden sie immer zu einem kohärenten Etwas. Dieser Vorgang wird nicht als Denkprozess verstanden, sondern als die Struktur unseres Wahrnehmungsapparates, wir können gar nicht anders wahrnehmen. Das Problem der guten Gestalt findet sich anders formuliert und aus einer anderen philosophischen Begründung her bereits in Platons Theaitet: Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.

Die Tiefendimension

 Um zu einem Urteil zu kommen, ein Phänomen möglichst objektiv beschreiben zu können, ist es notwendig, vor das Denken zu gehen und die Vorannahmen oder Vorgänge der Wahrnehmung und ihrer Verarbeitung zu analysieren. Eine exakte Analyse dürfte indes kaum möglich sein, da es der Mensch immer selber ist, der beschreibt, was er als Mensch sieht. Den blinden Fleck kann man bei sich selbst nicht erkennen. Versucht man ferner, auch das Gewordensein der eigenen Verarbeitungsmuster zu erkennen, also nicht nur die biologischen Vorgänge, so müsste eine vollständige biographische Analyse angestellt werden. Die ist allerdings nicht möglich, da derjenige, der diese Analyse betreibt, schon durch diese Erlebnisse geformt ist und vergangene Erlebnisse mit der aktuellen Folien betrachtet.

Das Phänomen ist mehr als der erste Blick

Die Wirklichkeit können wir immer nur vermittelt über unsere biologischen Anlagen, wie auch durch unsere in spezieller und individueller Weise verarbeiteten Erfahrungen machen. Das Wissen über diese Umstände sollte uns dazu führen, einen Blick, eine Meinung, eine scheinbare Sicherheit mit einem Vorbehalt zu versehen und vielleicht mehr Mühe darauf zu verwenden, wie wir zu einer Meinung gekommen sind als für diese Meinung Argumente vorzubringen. Dieses Vorgehen verlangt eine größere Mühe, weil die Selbsterkenntnis der allgemeinen Erkenntnis vorausgeht. Es wäre ein Schutz vor schnellen Überzeugungen und „falschen“ Meinungen, die zu negativen Folgen führen können, weil die Dynamiken der Psyche und des Unbewussten unberücksichtigt bleiben.


Kategorie: Gesehen

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