Klosterruine Heisterbach, Foto: hinsehen.net E.B.

Warum eine materialistische Kultur die Religion verliert

Die Kirchenaustritte bestimmen das Erscheinungsbild der Kirchen. Sie sind in einer Kultur, die auf Naturwissenschaften und Technik aufbaut, nicht gut aufgehoben. Diese baut auch keine Kirchen, sondern Zweckbauten. Warum ist das so?

Naturwissenschaften sind in Kulturen möglich, in denen es keine heiligen Quellen gibt und die Unwetter von Meteorologen erklärt werden können. Denn um den Dingen auf den Grund zu gehen, muss man einen göttlichen Einfluss ausschließen. „Etsi Deus non daretur“, „als ob es Gott nicht gebe“, war die Prämisse, mit der die Naturwissenschaften starteten. Was man nicht sucht, findet man auch nicht. Die Instrumente der Naturwissenschaften sind so ausgelegt, dass sie weder mit einem Elektronenmikroskop noch mit einem Satelliten Gott ausmachen können. Er wäre ja nicht Gott, wenn er Teil dieser Welt wäre. Schöpfer heißt ja, dass die Schöpfung unabhängig vom Schöpfer existiert und nicht Teil des Göttlichen ist. Deshalb müsste es sehr wohl möglich sein, dass ein Forscher sonntags in die Kirche geht, ohne dabei das Gefühl zu haben, er würde dem Anspruch der Wissenschaft nicht gerecht. Da das aber von den Materialisten unter den Forschern, sie bezeichnen ihre Philosophie als Naturalismus, oft nicht hingenommen wird, führt das weiter zu Auseinandersetzungen.  

Es geht um die Deutung der Welt

Zwischen Gott-Gläubigen und Materialisten schwelt ein Streit, der aufs Ganze geht. Es darf den anderen nämlich nicht geben. Den Religiösen entzieht die Ablehnung Gottes den Boden. Aber warum fühlt sich der Materialismus so von der Religion bedroht? Er hat doch das "Handfeste", was empirisch nachprüfbar ist, auf seiner Seite:
Die Ergebnisse der Naturwissenschaften kann niemand anzweifeln. Deshalb ist die Festung des Materialismus argumentativ nicht einnehmbar. Was über das Materielle hinausgeht, kann der Materialismus als bloße Träumerei abtun. Bei diesem Wirklichkeitsverständnis ist er als Naturalismus angekommen. "Es gibt nichts außer Materie" ist sein Credo. Das ist nicht beweisen, es gibt viele ungelöste Fragen, an denen Menschen zerbrechen. Daher ist der Satz „Alles ist materiell“ nichts Anderes als wenn andere Philosophen behaupten: Es gibt über die Materie hinaus etwas: Transzendenz. Denn dieses Weltall hat vor 13,5 Milliarden Jahren angefangen. Die Instrumente der Naturwissenschaften müssen an den Grenzen dieses Weltalls Halt machen, denn sie sind aus dem Stoff des Universums. Was außerhalb des Kosmos ist, bleibt den Naturwissenschaften verschlossen. Aber warum muss er sich dann darauf versteifen, dass es nichts mehr geben kann, also auch nicht Gott. Doch nur, wenn die Materie keinen Anfang hat. Das kann man aber seit der Bestätigung der Allgemeinen Relativitätstheorie nicht mehr annehmen. 

Materialismus ist wie eine Konfession

Wie in Konfessionskriegen musste das faschistische wie das kommunistische System die Religion nicht nur argumentativ außer Kraft setzen, sondern physisch. Es ist wie zwischen Schiiten und Sunniten und früher zwischen Katholiken und Protestanten. Weil man den Gegner nicht argumentativ seines Einflusses berauben kann, musste man ihn physisch besiegen und am besten ausmerzen. Da die Philosophie, also das Argument, gegenüber einem Glauben machtlos ist, muss anderswo nach einer Erklärung suchen. Man kann den Atheismus psychologisch erklären. Zumindest drei Motive lassen sich erkennen. Die zwei ersten hat Karl Marx benannt.

Religion ist Opium

Nachdem Religion im Westen durch die Konfessionskriege ihre destruktiven Impulse gezeigt hatten und die Epoche danach mehr von Kriegen als dem Aufbau einer gerechten Gesellschaft bestimmt wurde, bot die Industrialisierung die Chance, die menschliche Situation grundlegend zu verbessern - wenn die Verhältnisse gerecht gestaltet würden. Dafür brauchte es alle Energien. Da die Religion den Menschen auf ein Jenseits hinlenkt, zweigt sie Energien ab, die für den Aufbau einer gerechten Gesellschaft unentbehrlich sind. Marx forderte deshalb die Abschaffung der Religion, damit die Kräfte, die er in die himmlische Vorstellungswelt entschwinden sah, in den Umbau der Gesellschaft fließen konnten. Der Sowjetkommunismus war nicht zuletzt deshalb revolutionär, weil er aus Russland eine Industrienation machte. Für den totalen Umbau der Gesellschaft musste die Institution, die die bisherige Ordnung legitimierte, die Orthodoxe Kirche, ausgeschaltet werden. 

Kirchen sind restaurativ

Eine neue Gesellschaft muss die Bindungen an das Frühere kappen. Sie kann nur entworfen und auch dann tatsächlich gebaut werden, wenn keine Relikte früherer, „falscher“ Verhältnisse mitgeschleppt werden müssen. Da die Religionen sich auf einen Ursprung berufen, der für immer maßgebend sein soll, verfügen sie über die am besten verankerten Beharrungskräfte. Zudem waren der Katholizismus wie die protestantischen Landeskirchen eng mit dem Herrschaftssystem verknüpft, das entmachtet werden musste. Mit der Adelsherrschaft konnten die Kirchen gleich mit abgeschafft werden. Da man sich auf keinen langen Kampf einlassen konnte, musste den Kirchen jedweder Einfluss genommen werden, indem man ihre Bildungseinrichtungen und Gebäude konfiszierte. Jedoch berührt die Beseitigung der Religion noch nicht den "Glauben", der den Materialismus trägt. Dieser konkurriert weiter um die Herrschaft über die Weltbilder, die in den Köpfen der Menschen entstehen müssen, soll eine Gesellschaft zu einem Konsens finden.

Materialismus verspricht, alles aus der Materie erklären zu können

Das Credo des Materialismus besagt: Alles muss materiell erklärbar sein. Der Elan des naturwissenschaftlichen Forschens, der damit freigesetzt wurde, ist erstaunlich. Die Ergebnisse dieser Untersuchung der Materie haben die Technik ermöglicht und sind so weit gediehen, dass das Leben, konkret die Genetik der Zelle, „um-konstruiert“ werden kann. Technik aber verlangt, dass es keine, dem Menschen vergleichbare Größe gibt, die die Physik, die Chemie, die Biologie bestimmen kann. Wenn etwas Göttliches im Innersten des Atoms wirksam wäre oder man Gott mit einer Rakete erreichen könnte, dann gäbe es außer den Naturgesetzen noch etwas in der Materie, das für das Forschen unerreichbar bliebe. Da das Göttliche diese Welt überschreitet, wäre etwas in der Welt, was der Mensch nicht zu fassen bekommt. Weil die Genetik dem Innersten der Natur sehr viel nähergekommen ist, sind es unter den Naturwissenschaftlern eher die Biologen, die heute die Religion bekämpfen. Denn der Religion gelingt es, auf dem Gebiet der Genetik in die Forschung einzudringen. Sie errichtet eine Schranke, dass die Forschung nicht auf das Genom des Menschen zugreifen darf, weil dieses zwar nicht göttlich ist, aber von Gott beansprucht wird. Das Göttliche ist also mitten in der Forschung wieder präsent, weil die Religion beansprucht, die Würde des Menschen zu sichern, indem sie die Erbsubstanz für unantastbar erklärt. Die Religion zieht in dem Gebiet, wo die Forschung freie Hand braucht, eine Grenze. Der Garten, der vom Unkraut forschungsfremder Einflüsse gesäubert war, wird von einem neuen Samen bedrängt, nämlich der Idee, der Forschung könne von einer Instanz außerhalb der Naturwissenschaften Auflagen gemacht werden. Hier sie nur angemerkt, dass auch die Freiheit sich dem Zugriff der Naturwissenschaften entzieht. Zwar sind Facebook und Amazon schon sehr weit, unser Kaufverhalten vorauszusagen, aber es bleibt ein letzter Rest, der naturwissenschaftlich nicht fassbar ist – oder Naturalisten leugnen die Freiheit des Menschen, so u.a. der Hirnforscher Wolf Singer.

Materialistische Gesellschaftsordnung

Es bleibt noch neben der Materie ein weites Feld, das dem Menschen zur Gestaltung offensteht: Die Gesellschaft. Hier gibt es zwischen Materialisten und Religiösen eine große Gemeinsamkeit: Ihre Gesellschaftssysteme sind instabil und der Gewaltfaktor wird auch von keinem der beiden gebändigt. Das ist nicht erst in den Letzen zwei Jahrhunderten so. Die Neukonstruktion der Gesellschaft, in den USA und in verschiedenen Ländern Europas hatte als Voraussetzung, dass die alten Strukturen keine Zukunft versprachen. Die Französische wie die Russischen Revolution schlossen für die Ausübung von Herrschaft eine religiöse Legitimation aus. Der Materialismus hatte also die Möglichkeit, seine Überlegenheit auch bei der Gestaltung der Gesellschaft zu zeigen, mit dem Faschismus in Italien und Deutschland. Der Fehlschlag des kommunistischen Umbaus der Gesellschaft wäre eigentlich ein Argument gegen Materialismus, sogar aus seinen eigenen Voraussetzungen. Denn der Materialismus verlangt, dass jede Theorie, also jede Vorstellung, wie etwas funktioniert, empirisch überprüft werden muss. Da weder das faschistische noch das kommunistische Gesellschaftsmodell funktioniert und sogar die Gewaltausübung ausgeweitet haben, müssten die heutigen Materialisten, die sich Naturalisten bezeichnen, erklären, wie der bedrohlichen Finanzkrisen, der Klimakollaps, die Neuorganisation der Arbeit im herannahenden Zeitalter der Künstlichen Intelligenz entworfen werden können. Weil das nicht geschieht, ist das ein deutliche Zeichne, dass das Lebenszyklus dieser Philosophie sein Ende erreicht hat. S. dazu den Beitrag: Alt gewordenes Gehirn - alt gewordene Philosophie

Keine Rückkehr zur Metaphysik

Theologen und religiös orientierte Philosophen schauen auf die Zeit bis zum 14. Jahrhundert zurück, als die Metaphysik, also das „Über die Physik hinaus“ den Menschen in der Transzendenz verankerte. Dieser Philosophie fehlte das begriffliche Instrumentarium, das den Naturwissenschaften die Tore öffnete. Wie damals neue Denkmodelle entworfen wurden, ist das auch heute möglich und notwendig. Denn es steht angesichts der ökologischen Krise ein Umbau der Wirtschaft, des Verkehrssystems und der Lebensformen an. Dafür braucht es solide Grundlagen, die die gegenwärtige Philosophie nicht bereitstellt. Wie jede Philosophie muss ein neues Denkmodell zuerst das Menschsein bestimmen. Das ist deshalb dringend, weil nur noch die Menschen entscheiden, welche Pflanzen und Tieren eine Überlebenschance eingeräumt wird und wie sie sich zwischen den Gegebenheiten der Biosphäre und der technischen Machbarkeit verstehen soll. Es geht um die Entscheidung, im Einklang mit der Natur zu leben. Da weitere Erforschung des Genoms nicht allein der Gewinnung neuer Erkenntnisse dienen, sondern auf den Menschen angewandt werden soll, entsteht aus der Forschung eine weitere Notwendigkeit, das Menschsein zu bestimmen. Wird der Mensch dadurch besser, dass er in seinem Erbgut "überarbeitet" werden kann? 
Für die Philosophie und die aus ihr hervorgegangen Wissenschaften eröffnet sich ein großes Feld. Es wird viele Publikationen, viele Tagungen, Seminare und Gesprächskriese geben.


Kategorie: Verstehen

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